von Danielle Ferrari, Sonja Kurpiers und Ulrike Peter, Universität Bremen, entnommen aus [1].
Im Zusammenhang der Entwicklung integrativer Lern- und Lebensfelder ist es selbstverständlich, nicht nur den Einbezug behinderter Menschen zu fordern, sondern ihre selbstbestimmte Mitwirkung zu ermöglichen. Diesem Anspruch stehen aber kaum geeignete Konzepte zur Umsetzung gegenüber. Der Beitrag vermittelt einen Einblick in eine MIT geistig behinderten Menschen durchgeführte Bundestagung in Bremen zu Fragen der Erwachsenenbildung.
Die Tagung “Dialoge” vom 11.-13. Juni 1998 der “Gesellschaft für Erwachsenenbildung und geistige Behinderung” beinhaltete ein Novum: Erstmalig sollten die Menschen, die gemeinhin als “geistig behindert” bezeichnet werden und sich heute als “Menschen mit Lernbehinderungen” bezeichnen, so in eine Tagung eingebunden werden, dass sie an den wissenschaftlichen Inhalten teilhaben und ihre Sichtweise einbringen.
Das Tagungskonzept sah diesbezüglich vor, einerseits eine Moderation der Vorträge durchzuführen, um Inhalte transparenter gestalten zu können und andererseits persönliche Assistenz anzubieten.
Die Durchführung des Assistenzkonzeptes oblag dem Studiengang Behindertenpädagogik der Universität Bremen. Die Aufgabenbereiche dieser Assistenz übertrafen jedoch die gängigen Erfahrungen in diesem Bereich. Dies machte eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Assistenzbegriff notwendig.
Sichtweisen zum Assistenzbegriff
Seit seiner Einführung innerhalb der Diskussion der “Krüppel”- und Selbstbestimmt-Leben-Bewegung hat der Begriff der Assistenz zunehmend an Popularität gewonnen.
Es scheint sich abzuzeichnen, dass der einstmals politisch brisante Begriff zu einer leeren Worthülse verkommt, die allen passt, überall Verwendung findet und dabei den Anschein einer Innovation erweckt. Mittlerweile wird er in der Behindertenfürsorge in gleicher Weise verwendet, wie in der Behindertenbewegung, ohne bis heute eine exakte fachwissenschaftliche noch eine ausreichend gesellschaftswissenschaftliche Bestimmung ausgebildet zu haben. Trotz seines häufigen Gebrauchs bleibt somit sein Bezugsrahmen oft unklar.
Ein Blick in die Geschichte des Assistenzbegriffes lässt die aktuell breite Verwendung jedoch erstaunlich erscheinen. Im Zuge der Analyse und Kritik dessen, was sich ihnen als Lebensbedingungen erschließt, formulieren VertreterInnen der “Krüppel”- und Selbstbestimmt-Leben-Bewegung seit den siebziger Jahren ihre Rechte. Um diese in allen Bereichen realisieren zu können, entstand mit dem Modell der Assistenz eine Alternative zum kritisierten Betreuungswesen.
Definiert sich der Assistenzbegriff einzig aus seiner Abgrenzung gegen ein – noch so schlechtes – Betreuungswesen, gegen aufzeigbare gesellschaftliche Widersprüche oder gegen die bestehenden Bedingungen allgemein, bleibt er in ihnen verhaftet, bleibt er Werkzeug in seinem Gegen-Für und in seinem Für-Dagegen, aber in jedem Fall, bezogen auf diese Bedingungen.
Zwischenzeitlich ist aus dem ursprünglichen Wunsch nach Assistenz – zumindest teilweise – Realität geworden und es existieren Formen der Umsetzung. Diese kann jedoch nur unter den bestehenden Bedingungen erfolgen, die das Potential dessen, was in dem Ursprungsgedanken zur Assistenz liegt, modifizieren und einschränken.
Wird der Assistenzbegriff jedoch aus der reinen Anwendungsebene herausgelöst und in bezug auf seine Wurzeln gefasst, eröffnet er neue Sichtweisen: Im Rückgriff auf die Ausgangsforderung der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, mit der Assistenz anderes zu realisieren, als zuvor möglich erschien, ergeben sich unter Berücksichtigung der Entwicklungslogik des Individuums von einem streng subjektwissenschaftlichen und biographiebezogenen Standpunkt aus erweiterte Möglichkeiten der Lebensgestaltung.
Somit liegt das ursprüngliche Interesse der Forderung nach Assistenz in dem Ereignis, das durch die Assistenz möglich wird, selbst. Es kann nicht eingefroren, verschrieben, verbürgt, unendlich wiederholt werden. In diesem durch die Assistenz möglich werdenden Ereignis liegt die Intensität einer Begegnung mit etwas noch nicht Gedachtem, das sich nicht in den Formen des Nachahmens, des Reproduzierens, des Ähnlichen und des Analogen erschöpft – und damit zuvor nicht absehbare Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsdimensionen möglich werden lässt.
Zusammenfassend heißt dies, Assistenz nicht als Umsetzung einer selbstbestimmten Lebensführung zu verstehen, die eine Alternative zu fremdbestimmenden Strukturen schaffen will, sondern Assistenz, im Sinne eines Ereignisses als ein Potential zu begreifen, anders werden zu können, anderes realisieren zu können, als zuvor möglich erschien.
Dialoge – “dass man dazu lernt und Leute kennen lernt”
Niemand bleibt zu Haus – jedenfalls nicht wegen einer Beeinträchtigung. Dies war das erste Anliegen der VeranstalterInnen der Fachtagung “Dialoge – Menschen mit Behinderungen in der Erwachsenenbildung”. Alle sollten kommen, die sich hierzu weiterbilden und dabei in fachlichen und persönlichen Austausch begeben wollten. Dazu wurde versucht, die Tagungskonzeption an dem breiten Bedürfnisspektrum der TeilnehmerInnen so auszurichten, dass es allen gleichermaßen möglich wurde, an den Inhalten teilzuhaben, sie mit zu gestalten. Wer hierzu individuelle Hilfe in Anspruch nehmen wollte, konnte dies in Form einer persönlichen Assistenz tun. Diese Assistenz sollte gewährleisten, dass die AssistenznehmerInnen sich selbständig auf der Tagung bewegen konnten und zwar einschließlich der An- und Abreise; alle benötigten Hilfen bereithalten, auch solche, die notwendig waren, um an komplexen wissenschaftlichen Inhalten teilhaben zu können; ermöglichen, eigene kulturelle und individuelle Interessen wahrzunehmen.
Von Anfang an wurde erwartet, dass es sich um einen Spagat handeln würde. Es galt, zwischen einem hohen inhaltlichen Anspruch der Tagung und einem hohen Grad an “Verständlichkeit” für alle TeilnehmerInnen zu vermitteln. Die ReferentInnen bemühten sich, ihren Vortrag anschaulich und in leichter Sprache zu halten. Ihnen zur Seite gestellt wurden jeweils ein Moderator, eine Moderatorin, die den Vortrag abschnittsweise zusammenfassten. Zusätzlich wurde auf dem Podium die Funktion eines “Schlaumeiers” eingeführt, einer Person, die zwischen dem Podium und dem Publikum vermittelt. Der Assistenz kam in diesem Rahmen die Aufgabe zu, den/die AssistenznehmerIn in der aktiven Teilhabe zu unterstützen.
Zahlreiche Erfahrungsberichte sowie die Ergebnisse einer Fragebogenaktion liegen in Form einer Ausstellung und eines Berichtes vor.
[1] Veröffentlichungsquelle: Feyerer, E. & Prammer, W. (Hrsg.): Qual-I-tät und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Oberösterreich, Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 2004, ISBN 3-85487-570-3, 465 Seiten.