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von Brandl Maria, Integration:Österreich, Wien, entnommen aus [1].
“Ideen gestalten Wirklichkeiten, Gedanken formen die Zukunft.” (Klaus Bayer)
Eltern behinderter Jugendlicher ist die Möglichkeit von allgemeiner und beruflicher Bildung für ihre Kinder mit Lernbeeinträchtigung ebenfalls so wertvoll und wichtig wie für Eltern nichtbehinderter Jugendlicher. Was können wir Eltern – gemeinsam mit PädagogInnen und Betroffenen – tun, um für unsere Jugendlichen dieses Menschenrecht auf vielfältige, nichtaussondernde Bildungsangebote über das 15. bzw. 16. Lebensjahr hinaus durchzusetzen?
Dieser Fragestellung versuchten wir uns in diesem Workshop anzunähern.
Derzeit ist das Recht auf Bildung für Jugendliche mit sonderpädagogischen Förderbedarf zeitlich begrenzt. Man ist angewiesen auf das Goodwill vereinzelter Schulversuche an einigen engagierten, weiterführenden Schulen sowie der Polytechnischen Schule – oder endet nach 8 Jahren Integration der Weg in der Sonderschule?
Die beiden letzten Gesetzesentwürfe des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Kultur besagen, dass integrativer Unterricht auf der 9. Schulstufe ausschließlich in der Polytechnischen Schule (PTS) ermöglicht werden soll.
Derzeit wird die Polytechnische Schule oft “nur” als Art Übergangslösung (Erfüllung der Schulpflicht) für Jugendliche mit persönlichen Schwierigkeiten auf Grund z. B. ihrer sozialen Situation angesehen. Vor allem im städtischen Gebiet wird so die PTS bereits als “Randschule” betrachtet Das würde bedeuten, dass genau in diesen Schultyp noch alle anderen Jugendlichen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF), zusammengefasst aus den verschiedensten Schulen des regionalen Umfeldes, kommen würden. Über kurz oder lang wird dadurch die PTS zu einer Art “Sonderschule”.
Derzeit finden nicht behinderte SchülerInnen auf der 9. Schulstufe Wahlmöglichkeiten, je nach Begabung und Interesse, für ihre weitere berufliche Laufbahn vor. Auch Jugendliche mit Behinderung haben spezielle Begabungen und Neigungen, die weiter auszubauen und zu fördern sind. Behinderte SchülerInnen müssten sich jedoch mit der Wahl zwischen einer Sonderschule oder einer PTS begnügen. Eine derartige Einschränkung der Schulwahl erscheint in keinem Fall “die Gleichstellung von behinderten und nicht behinderten Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens zu gewährleisten” (Art. 7 Abs.1 der österreichischen Bundesverfassung).
Sonderbehandlung und Ausgrenzung ist daher für Jugendliche ab der 8.Schulstufe auch 2003 gelebte Realität. Es fehlt weiterhin an den notwendigen gesetzlichen Rahmenbedingungen. In Sondereinrichtungen und unzähligen Qualifizierungsprojekten werden Jugendliche zwar auf das Berufsleben vorbereitet und möglicherweise nach Jahren auch in Betrieben integriert, jedoch setzt diese Art der Integration die Ausgrenzung voraus: Ausgrenzung von regulären Bildungsangeboten, von den Gleichaltrigen, vom bekannten Umfeld. Sonderprojekte, so gut und innovativ sie auch sein mögen, verhindern – solange sie die einzige Alternative bleiben – ein Aufeinanderzugehen von Menschen mit Behinderungen und ihren potenziellen ArbeitgeberInnen.
Bildung ist als eine unbedingte Voraussetzung für die inklusive Teilhabe, Teilnahme und Mitbestimmung in unserer Gesellschaft anzusehen – und zwar für ALLE Menschen – unabhängig von Begabungen und Fertigkeiten – niemand darf davon ausgeschlossen sein oder sich ausgeschlossen fühlen – weder im Schulalter noch darüber hinaus.
Bildung ist Menschenrecht und zugleich auch Menschenpflicht!
Daher fordert die bundesweite Elterninitiative Integration:Österreich als erstes “Muss” für 2003 die gesetzliche Regelung integrativer Schulversuche an allen Schultypen der Sekundarstufe II. Dies muss gleichberechtigt auch für Menschen mit Lerndefiziten oder Lernschwierigkeiten gelten, sie haben ebenfalls Anspruch auf vielfältige allgemeine Bildung innerhalb eines sozialen Verbandes mit annähernd Gleichaltrigen.
Primär erfordert dies den grundsätzlichen politischen Willen und die dadurch erlebare sowie lebbare gesellschaftliche Haltung – von einer differenzierenden, aussondernden Denk-, Lebens- und Handlungsweise in Gesellschaft und Pädagogik zu einem Bewusstsein, das die Verschiedenheit aller Menschen als bereichernden Wert erkennt, akzeptiert, respektiert und gesetzlich absichert.
Dazu bedarf es eines bundesweiten Behindertengleichstellungsgesetzes – eine jahrelange politische Forderung der Selbstbestimmt-Leben-Initiative (SLI), vieler Behindertenorganisationen, Interessensvertretungen und der Elterninitiative Integration:Österreich. Beispielhaft dazu ein Auszug aus den Forderungen der Deklaration von Madrid:
“Eine umfassende Antidiskriminierungsgesetzgebung muss unverzüglich erlassen werden, um existierende Barrieren zu beseitigen und die Errichtung von neuen Barrieren zu vermeiden, denen behinderte Menschen zum Beispiel in der Bildung, in der Beschäftigung und beim Zugang zu Gütern und Dienstleistungen begegnen können und welche behinderte Menschen daran hindern, ihr volles Potenzial für soziale Teilhabe und Unabhängigkeit zu erreichen. Die Nichtdiskriminierungsklausel in Artikel 13 des EG-Vertrages ermöglicht dies auf Gemeinschaftsebene und trägt somit zu einem wirklich barrierefreiem Europa für Menschen mit Behinderungen bei.”
Wie ist das nun in Österreich? Wie ist das nun mit Realität und Traum? Welche Vorboten zeigen sich uns in den ersten fünf Monaten dieses Europäischen Jahres für Menschen mit Behinderungen? Werden Vorgaben/Auflagen auf Menschenrechtsebene, auf europäischer Ebene in Österreich ernst genommen und umgesetzt – ist dieses Jahr ein Jahr der Integration?
Die jetzige Bundesregierung ist unserer Einschätzung nach nicht wirklich daran interessiert, gesetzliche Grundlagen zu schaffen, die schulische und berufliche Ausgrenzung von Menschen mit Behinderungen zu verhindern. Sie schwört eher auf eine Beschäftigungsoffensive, deren Finanzierung lediglich bis Ende 2004 gesichert ist. Das ist eine kompensatorische Sozialpolitik, die zwar möglicherweise in bestimmten Bereichen das Angebot für Menschen mit Behinderung kurzfristig erweitert, letztendlich aber auch zu neuen Schnittstellen und Aussonderung führt.
Die Erfolgsindikatoren von 2003 – dem Jahr für Menschen mit Behinderungen – würden in unseren Augen eindeutig Gesetze zur Gleichstellung sein: im Bildungsbereich also Gesetze, die den freien Schulzugang mit entwicklungsorientiertem, individualisierendem Unterricht für alle SchülerInnen im gesamten Schulwesen garantieren.
Wir fordern daher das Recht auf inklusive Bildung für alle auch ab der 9. Schulstufe!
Die Erklärung von Madrid “NON DISCRIMINATION PLUS POSITIVE ACTION RESULTS IN SOCIAL INCLUSION” finden sie unter http://www.madriddeclaration.org/
[1] Veröffentlichungsquelle: Feyerer, E. & Prammer, W. (Hrsg.): Qual-I-tät und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Oberösterreich, Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 2004, ISBN 3-85487-570-3, 465 Seiten.