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Im gesellschaftlichen Diskurs über Menschen mit Behinderungen läuft vieles gut, manches aber leider immer noch schlecht. Wir haben bei Heidemarie Egger vom Österreichischen Behindertenrat nachgefragt, wie es in Österreich um die Inklusion steht und festgestellt: “Wir brauchen endlich eine neue Norm.”

Frau Egger, mal ehrlich: Wie weit (hinten) sind wir in Österreich in puncto Inklusion?

Heidemarie Egger (Österreichischer Behindertenrat): Gute Frage. Das hängt davon ab, womit man es vergleicht. Was ist die Referenz?

Ihre Wunschvorstellung.

Dann ist der Weg noch ein weiter. Wir kämpfen in Österreich noch mit ganz großen Themen, aber es ist auch Bewegung da. Kurzum: Es passiert vieles, aber es ist noch ein weiter Weg bis Menschen mit Behinderungen mit allen unterschiedlichen Behinderungen am gesellschaftlichen Leben teilhaben können.

Was sind die größten Baustellen?

Als Beispiel: Wir waren auf der Suche nach einem Ort für unsere Weihnachtsfeier und es ist nicht so leicht, ein barrierefreies Lokal in Wien zu finden. Und Barrierefreiheit geht ja noch viel weiter: Da geht es auch darum, dass es Leitsysteme gibt für Menschen, die blind sind oder eine Sehbehinderung haben. Da geht es um die Akustik und auch darum, dass Inhalte auf der Bühne in die Österreichische Gebärdensprache übersetzt werden. Das Themenfeld ist breit und verschiedene Aspekte werden unterschiedlich gut gemacht.

Wir haben ja eigentlich schon seit einem Jahr eine ganz gute Wirtschaftslage, aber die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen, Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen, steigt. Das ist ein Widerspruch, der schwierig zu erklären ist.

Heidemarie Egger, Österreichischer Behindertenrat

In Hinblick auf Inklusion im beruflichen Leben: Wo steht Österreich hier gerade?

Das ist auch ein großes Thema aktuell, weil: Wir haben ja eigentlich schon seit einem Jahr eine ganz gute Wirtschaftslage, aber die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderungen, Menschen mit gesundheitlichen Vermittlungseinschränkungen, steigt. Das ist ein Widerspruch, der schwierig zu erklären ist.

In Österreich gibt es viele Angebote, viele sehr gute Unterstützungsangebote von Arbeitsassistenzen, aber genauso gibt es noch sehr viele Unternehmen, die es noch nicht schaffen zu erkennen, dass Menschen mit Behinderungen attraktive Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind. Es gibt noch sehr viele – und jetzt bediene ich mich einem etwas veralteten Begriff – “Barrieren in Köpfen”, die man noch angehen muss und wo es noch viel Sensibilisierung braucht.

Und natürlich geht es auch um Unterstützung in Form von Förderungen. Der individuell notwendige Unterstützungsbedarf sollte erhoben werden, weil die Behinderungen ja von außen kommen. In weiterer Folge sollte es spezifische Förder- und Unterstützungsmaßnahmen für Menschen mit Behinderungen geben, um so gleiche Chancen am Arbeitsmarkt zu schaffen.

Das Thema Behinderung ist eher unsichtbar in Österreich. Und wenn es dann sichtbar wird, dann geht es entweder um Opfergeschichten oder um Heldengeschichten

Heidemarie Egger, Österreichischer Behindertenrat

Mit welchen konkreten Forderungen beschäftigt sich der Österreichische Behindertenrat aktuell?

Mit vielen. (schmunzelt) (Anmerkung: Alle Förderungen hier auf dem Forderungspapier nachzulesen) Einerseits geht es uns als Interessensvertretung um die Umsetzung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Diese Konvention wurde schon vor über 10 Jahren unterschrieben und da geht’s um die umfassende Partizipation von Menschen mit Behinderungen.

Zum Anderen geht es darum, dass Rechte und Leistungen österreichweit einheitlich gewährt werden und dass es länderübergreifende Vereinbarungen braucht in der Behindertenpolitik.

Ein Thema, mit dem ich mich persönlich sehr viel beschäftige, ist die Thematik Frauen mit Behinderungen. Da geht es um die öffentliche Sichtbarkeit von Frauen mit Behinderungen, weil sie einfach noch sehr unsichtbar sind. Wenn die beiden Faktoren “Frau” und “Mensch mit Behinderungen” zusammentreffen, potenziert sich die Diskriminierung und die Problematik. Frauen mit Behinderungen sind um ein Vielfaches öfter von Gewalt betroffen. Daher braucht es Barrierefreiheit bei Opferschutzeinrichtungen für Frauen und frauenspezifischer Angebote – als Beispiel etwa, dass Opferschutzeinrichtungen und Angebote umfassend barrierefrei gestaltet werden sollten und auch im ländlichen Bereich bedarfsgerecht zur Verfügung stehen.

Ein weiteres Anliegen ist die Barrierefreiheit im Online-Bereich und dass für Menschen mit Behinderungen Schulungen zur Steigerung ihrer digitalen Kompetenz kostenfrei angeboten werden. Viele Menschen mit Behinderungen haben aufgrund der schlechten Bildungssituation, der fehlenden schulischen Inklusion, das Problem, dass sie da noch Unterstützung brauchen, um Anschluss an die Digitalisierung finden. Für uns ist das Schaffen eines inklusiven Bildungssystems, das österreichweit mit ausreichenden Ressourcen – finanziell und personell – ausgestattet ist, ein ganz besonderes Anliegen. Allen voran damit auch, dass die Sonderschulen umgewandelt werden in inklusive Schulen, wo Menschen mit und ohne Behinderungen miteinander lernen.

Und wenn Sie sich den gesellschaftlichen Diskurs abseits von Interessensvertretungen anschauen: Wie wird der Diskurs in Hinblick auf Inklusion in Österreich aktuell geführt – und worüber sprechen wir Ihrer Einschätzung nach zu wenig?

Das Thema Behinderung ist eher unsichtbar in Österreich. Und wenn es dann sichtbar wird, dann geht es entweder um Opfergeschichten (wenn das Leben von Menschen mit Behinderungen sehr dramatisch und sehr negativ erzählt wird) oder um Heldengeschichten (wo es zu Überhöhungen kommt, weil Menschen mit Behinderungen ihren Alltag meistern wie Menschen ohne Behinderungen). Das sind zwei Paradigmen, die noch stark vorherrschen. Es passiert leider viel zu selten, dass ein Mensch mit Behinderungen ganz natürlich Teil einer Erzählung ist.

Auch was das Wording anbelangt: Es herrscht oft noch ein bisserl Angst vor dem Wort “Behinderung”. Wir als Österreichischer Behindertenrat sprechen von “Menschen mit Behinderungen” – und wir nehmen hier die Mehrzahl, weil wir vom menschenrechtsbasierten Ansatz vom Thema Behinderung ausgehen – das heißt, dass die Behinderungen von außen kommen.

Überhaupt ist das Wort “Behinderung” sehr negativ konnotiert, man hört es auch immer wieder als Schimpfwort. Das Wort soll normal zu verwenden sein. Wir lehnen auch Wordings wie “besonders Bedürfnisse” oder “Handicap” ab, die ja nur dafür sprechen, dass man Angst hat, das Wort “Behinderung” zu verwenden.

Es geht darum, dass wir einen Blick auf Menschen mit Behinderungen entwickeln, der sie auch in das Konzept des “Normalseins” einbezieht. Dass einfach ein neues Normal entsteht.

Quelle: wienerin.at