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“Ich würde mir wünschen, dass die Leute ihre Augen schließen und mich so behandeln, wie sie es dann fühlen.”

Obwohl jeder zehnte in Deutschland lebende Mensch eine Schwerbehinderung hat, sind Leute in ihrer Nähe häufig so unsicher wie Jungfrauen kurz vor ihrem ersten Mal. Um euch diese Unsicherheiten zu nehmen und Menschen mit Behinderung weiteren Bullshit zu ersparen, haben wir einige von ihnen um Tipps im alltäglichen Umgang gebeten.

Jeanette, 36, ist gehbehindert

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Bild: privat

“Ich bin sehr aufgeschlossen und kontaktfreudig. Für mich spielt meine Behinderung keine große Rolle. Ich kann halt nicht so weit laufen wie andere oder wandern gehen. Häufig bekomme ich beim Treppensteigen schlecht Luft. Früher hatte ich oft die Situation, dass Leute mich angestarrt haben. Ich habe letztes Jahr Work and Travel in Kanada gemacht. Mir ist aufgefallen, dass die Leute dort viel weniger gucken als in Deutschland. Seit einigen Jahren ist mir das aber egal. Am schlimmsten ist es, wenn Kinder weggezogen werden. Manchmal fragen sie ihre Eltern dann, was ich habe. Und sie antworten: “Das darfst du nicht fragen.” Dabei freue ich mich eher, wenn jemand fragt, statt minutenlang zu starren. Besonders Kinder dürfen immer fragen. Die sind eben neugierig.

Was für mich gar nicht geht: angefasst werden. Das möchten Menschen ohne Behinderung ja auch nicht. Auf meinem Rücken habe ich einen kleinen Huckel – bei Omas würde man Buckel sagen. Gerade beim Feiern fassen den betrunkene Menschen einfach an, meistens leider Männer. Manchmal piksen sie auch mit ihrem Finger rein und fragen, was das sei. Was ich auch nicht mag ist, wenn Menschen behaupten, ich sei eine Inspiration. Ich bin wie jeder andere und möchte auch so behandelt werden.”

Markus, 46, ist blind

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Bild: privat

“Es gibt Situationen, in denen ich Hilfe benötige. Es gibt aber auch Situationen, in denen ich keine benötige und sie mir trotzdem aufgedrängt wird. Wenn ich versuche, in die Bahn zu steigen, packt mich häufig jemand am Arm und zieht mich rein – ohne ein Wort zu sagen. Wenn mich jemand packt und schiebt, ist das sehr beklemmend. Es fühlt sich an wie geschubst zu werden. Man sollte in jedem Fall immer zuerst fragen, ob jemand bei einer alltäglichen Handlung Hilfe benötigt. Ich laufe jeden Morgen zur Bahn, steige dort ein und fahre zur Arbeit. Wenn ich das nicht könnte, würde ich ja jemanden mitnehmen. Und wenn mich jemand führt, ist es mir ganz wichtig, dass ich dessen Arm festhalte und nicht anders herum. So kann ich jederzeit loslassen.

Wenn ich trinke, steht mein Glas meistens “auf zwei Uhr” vor mir. Wenn mir jemand immer wieder das Glas in die Hand drückt, finde ich das übergriffig. Die Person scheint mir nicht zuzutrauen, dass ich mein Glas selber finde. Oder, wenn mich jemand fragt, ob er mein Fleisch auf dem Teller schneiden soll. Wenn die Person mir nicht einmal zutraut, mein Fleisch selber zu schneiden, traut sie mir dann zu, arbeiten zu gehen? Der Umgang auf Augenhöhe fehlt. Auf der einen Seite wird man für banale Dinge gelobt. Zum Beispiel dafür, dass man seinen Teller aufgegessen hat. Auf der anderen Seite wird mir nicht zugetraut, dass ich für meine Familie grille. Anzeige

Ich persönlich empfinde das Hilfsangebot von Anderen als konstant zu viel. Wenn ich Hilfe ablehne, sagen Menschen häufig: “Schade, ich wollte jetzt eigentlich meine gute Tat des Tages erfüllen.” Sowas ist ziemlich strange. Ich bin nicht dafür verantwortlich, dass andere sich gut fühlen. Die Frage ist immer, wieso Menschen Hilfe anbieten. Und selbst wenn sie das uneigennützig tun, wünsche ich mir mehr Gelassenheit, wenn ich die Hilfe ablehne. ‘Na, wunderbar, dass sie allein zurechtkommen’, sagt jemand im besten Fall.”

Charlotte, 32, ist geistig behindert

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Bild: privat

“Ich finde, man sollte freundlicher mit Menschen mit Behinderung umgehen. Man sollte ihnen offen begegnen und fragen, wenn es Fragen gibt. Dann kann ich meine Behinderung besser erklären. Und man sollte mehr Verständnis haben: Letztens hat mein Mitbewohner in der Straßenbahn angefangen zu schreien – und alle haben ihn angestarrt.

Es passiert oft, dass Menschen mich nicht ernst nehmen. Neulich war ich im Supermarkt und vor einem Regal lagen Scherben. Ich habe der Verkäuferin Bescheid gesagt, weil ich sogar in eine Scherbe reingetreten bin. Aber sie hat mir nicht geglaubt. Ich denke, das lag an meiner Behinderung. Ich brauche immer etwas länger. Ich würde mir wünschen, dass man mir diese Zeit gibt. Wenn ich etwas falsch mache, sollte man mir das in einem ruhigen Ton erklären und nicht aggressiv werden. Sonst fühle ich mich echt blöd.”Anzeige

Silja, 53, ist blind

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Bild: privat

“Viele Menschen begreifen nicht, was mein Blindenstock bedeutet. Er ist mein verlängerter Tastfinger. Ich taste mich häufig an der Wand entlang, um beispielsweise einen Eingang zu finden. Die Leute wollen mich dann immer in die Mitte führen. Dabei muss ich mich orientieren. In der U-Bahn blockieren sie häufig die Leitlinie, weil sie die nicht wahrnehmen oder von ihren Handys abgelenkt sind. Dabei ist sie wichtig für mich.

Es gibt aber auch sehr viele Leute, die unglaublich aufmerksam sind und ihren Platz sofort freimachen. Leider sagen sie oft nicht Bescheid, wenn sie aufstehen, und gehen einfach weg. Dann weiß ich natürlich nicht, ob der Platz jetzt frei ist. Es ist wichtig, mit mir zu sprechen.

Es ist auch schon passiert, dass ich eine Situation falsch verstanden und mich deshalb bei einer anderen Person auf den Schoß gesetzt habe. Mir würde es helfen, wenn Menschen mich in der vollen U-Bahn ansprechen und mir Hilfe anbieten würden – ganz ruhig. Die meisten schreien einen an, weil sie glauben, man sei dazu noch taub. Und sie sollen mich bloß nicht einfach am Arm packen und rein ziehen. Stattdessen: Bitte fragen, das kann nie schaden. Dann kann ich immer noch Ja oder Nein sagen. Wir Blinden werden leider den ganzen Tag angefasst und oftmals behandelt wie Kinder. Manchmal kann es passieren, dass man irgendwann genervt oder zu heftig reagiert – bitte nicht böse oder enttäuscht sein.”Anzeige

Tina, 35, hat eine angeborene Muskelschwäche

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Bild: privat

“Die Menschen wissen oft nicht, wie sie auf mich zugehen sollen. Meine Aufgabe ist es, den Menschen die Unsicherheit zu nehmen. Sie dürfen mich alles fragen. Ich freue mich darüber. Ich würde mir wünschen, dass die Menschen häufiger hinter die Fassade blicken. Stattdessen sehen sie eine zierliche Frau im Rollstuhl, die offenbar immer Hilfe von ihrer Assistenz braucht. Dann heißt es oft: “Och, die Arme” oder “Sie tut mir so leid”. Aber ich kenne es ja gar nicht anders. Dieses Defizit ist nicht immer ein Defizit für mich. Durch meine Behinderung bin ich zu dem Menschen geworden, der ich heute bin. Ich würde mir wünschen, dass die Leute manchmal ihre Augen schließen und mich so behandeln würden, wie sie es dann fühlen. Meistens sind Unsicherheiten in zwei Sätzen abgehandelt. Ich bin zwar im Rollstuhl, aber trotzdem bin ich genauso normal wie wir alle.”

Quelle: vice.com/Yannah Alfering