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von Petra Flieger, freie Journalistin und Wissenschaftlerin, Tirol, entnommen aus [1].
Dem Impulsreferat im Workshop lag eine sozialwissenschaftliche Studie zur Freizeit von Kindern mit Behinderung zu Grunde, die im Folgenden kurz zusammengefasst wird.
Fragestellung
Die Studie befasst sich aus zwei unterschiedlichen Perspektiven mit der Frage, was Kinder mit Behinderung in ihrer Freizeit tun. In Form teilnehmender Beobachtung wurden einerseits sieben Kinder mit geistiger Behinderung in unterschiedlichen Freizeitsituationen begleitet, um aus der Sicht der Kinder selbst zu erfassen, womit sie ihre freie Zeit verbringen bzw. verbringen möchten. Ihre Mütter gaben dazu ergänzend Auskunft. Andererseits interessierte, welche Position Anbieterorganisationen von Freizeitaktivitäten für Kinder in Bezug auf die Teilnahme von Kindern mit Behinderung einnehmen. In leitfadenorientierten Interviews gaben daher RepräsentantInnen verschiedener Organisationen bzw. Unternehmen Auskunft, die Gespräche wurden auf Band mitgeschnitten. Im Anschluss an jede teilnehmende Beobachtung verfasste die Autorin Gedächtnisprotokolle, die Gespräche mit den ExpertInnen wurden wörtlich transkribiert. Es entstanden Texte, die als Datenbasis herangezogen und qualitativ interpretiert werden konnten. Die Interpretationen erfolgten sowohl in einem Redaktionsteam als auch durch die Autorin unter Einbeziehung relevanter Fachliteratur.
Zentrale Ergebnisse im Überblick
Beim oberflächlichen Vergleich der Beobachtungsprotokolle mit den Interviews fiel eine Diskrepanz deutlich auf: Im Gegensatz zu den beschriebenen Erlebnissen mit den Kindern mit Behinderung, die grundsätzlich von Begeisterung, Spaß und Aktivität gekennzeichnet waren, waren die Aussagen der ExpertInnen deutlich mehr von Problemen dominiert. Im Detail zeigte sich Folgendes:
Die teilnehmenden Beobachtungen in Freizeitsituationen von Kindern mit geistiger Behinderung machten deutlich, dass sich Kinder mit Behinderung in ihren Aktivitäten, Vorlieben, Interessen und Wünschen nicht von Kindern ohne Behinderung unterscheiden. Der Vergleich mit empirischen Ergebnissen aus der Freizeitforschung von Kindern ohne Behinderung zeigte, dass sich Kinder mit Behinderung ebenso gerne draußen aufhalten und bewegen, Fahrrad fahren, Ball spielen und schwimmen gehen wie gleichaltrige Kinder ohne Behinderung. Dasselbe gilt für Spielsachen und Medien: Kinder mit Behinderung beschäftigen sich mit vielfältigen Spielsachen und Spielmaterialien, spielen alleine, mit anderen Kindern oder ihren Eltern, nützen kreativ auch Dinge, die nicht vordergründig als Spielmaterial gedacht sind. Ebenso selbstverständlich ist ihr Umgang mit Medien: Kassettenrekorder, Personal Computer oder CD-Playstation aber auch Bücher gehören für viele Kinder mit Behinderung zum selbstverständlichen Bestandteil ihres Alltags. Auch dass sie bei all diesen Aktivitäten von jenen Rahmenbedingungen abhängig sind, die ihnen ihre Eltern bieten, unterscheidet sie nicht von Gleichaltrigen ohne Behinderung, denn großangelegte Untersuchungen zeigen deutlich, wie stark Formen der Freizeitbeschäftigung von Kindern abhängig sind vom Bildungsniveau, vom Einkommen und vom Lebensstil der Eltern.
Dennoch zeigten sich anhand der exemplarischen Schilderung einige deutliche Unterschiede zwischen Kindern mit und ohne Behinderung. Das freie Zeitbudget von Kindern mit Behinderung ist häufig durch äußere Strukturen wie ganztätiger Sonderschulbesuch und damit verbundenen Zeitaufwand für Transporte mit Sonderfahrtendienste stark eingeschränkt. Unter dem Schuljahr bleibt ihnen oft keine Zeit mehr, an außerschulischen Freizeitaktivitäten teilzunehmen. Dasselbe gilt für Therapien, die zur Alltagsroutine von Kindern mit Behinderung gehören. Darüber hinaus gilt für Kinder mit Behinderung verstärkt, was für Kinder ohne Behinderung zutrifft: sie sind vom Engagement und der Unterstützungsbereitschaft ihrer Eltern besonders abhängig. Aufgrund ihrer Behinderung benötigen viele Kinder z.B. Begleitung im Straßenverkehr und gezielte Unterstützung bei der Durchführung konkreter Aktivitäten. Da es keine familienunterstützenden Dienste gibt, die solch eine Begleitung bereitstellen, sind die Kinder in den meisten Fällen auf ihre Eltern angewiesen. Vom Engagement ihrer Eltern hängt es daher auch ab, ob Kinder mit Behinderung an institutionellen Freizeitangeboten wie z.B. der Jungschar teilnehmen.
Die Kehrseite dieses Phänomens findet sich bei der Befragung der ExpertInnen von Anbieterorganisationen: obwohl alle betonen, dass ihre vielfältigen Angebote grundsätzlich für alle Kinder offen sind und niemand ausgeschlossen wird, sind sie sich darin einig, dass Kinder mit Behinderung nur sehr selten an allgemeinen Angeboten teilnehmen. Gleichzeitig verbinden sie mit der Teilnahme von Kindern mit Behinderung häufig Probleme: die Überforderung von MitarbeiterInnen wird befürchtet, fehlende Qualifikation für den Umgang mit Kindern mit Behinderung bemängelt und bauliche Barrieren in vielen Gruppenräumen oder Veranstaltungsorten kritisiert. Angst und Unsicherheit in der Begegnung mit Menschen mit Behinderung schwingen in den Gesprächen häufig mit. Dennoch schildern viele der interviewten ExpertInnen einzelne persönliche Erlebnisse und Erfahrungen, in denen die Teilnahme von Kindern mit Behinderung gut geklappt hat.
Eines zeigt sich ganz deutlich: die Integration von Kindern mit Behinderung ist die Privatangelegenheit Einzelner, von Müttern und Vätern ebenso wie von einzelnen engagierten GruppenleiterInnen oder AnimateurInnen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie für ihr Anliegen, also die gleichberechtigte Teilhabe eines Kindes mit Behinderung an allgemeinen Freizeitangeboten, keine Unterstützung finden. Weder erhalten Eltern Hilfe durch familienentlastende Dienste noch erhalten GruppenleiterInnen oder BetreuerInnen gezielte Unterstützung von ihren Organisationen.
Integration als Weg und als Ziel
Sowohl anhand der konkreten Beobachtungen der Kinder mit Behinderung in integrativen Freizeitsituationen als auch anhand der Schilderungen gelungener Integration durch die ExpertInnen werden allgemeine Prinzipien einer integrativen Freizeitpädagogik sehr detailliert veranschaulicht.
Zentrales Prinzip eines integrativen Ansatzes ist es, allgemeine Freizeitangebote, die Kindern ohne Behinderung offen stehen, auch für Kinder mit Behinderung zugänglich zu machen. Dabei muss auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung, die individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt sein können, eingegangen werden. Eine integrative Pädagogik macht es möglich, dass auch Kinder mit sehr unterschiedlichen Fähigkeiten und Interessen Freizeit gemeinsam und in all ihrer Vielfalt erleben können. Toleranz und Akzeptanz drücken sich nicht zuletzt in einer alltäglichen integrativen Praxis aus.
Für GruppenleiterInnen und BetreuerInnen bedeutet Integration von Kindern mit Behinderung im Freizeitbereich die persönliche Auseinandersetzung mit eigenen Grenzen, Ängsten und Befürchtungen. Sie benötigen neben gezielten Informationen einen unterstützenden Rahmen, der diese persönliche Auseinandersetzung zulässt und trägt. Organisationen sind aufgerufen, für diese Voraussetzung Sorge zu tragen und im Sinne ihrer allgemeinen pädagogischen Leitlinien Integration als unteilbares Prinzip anzunehmen.
Für die Eltern von Kindern mit Behinderung ist es schließlich erforderlich, dass sie im Rahmen familienentlastender Dienste Unterstützung dafür erhalten, dass ihre Kinder Freizeitangebote in Anspruch nehmen können. Dass Kinder mit Behinderung selbstverständlich und gleichberechtigt an Freizeitaktivitäten teilnehmen, ist schließlich ein weiterer Schritt dahin, dass aus den Kindern später selbstbewusste und aktive Bürger und Bürgerinnen mit Behinderung werden.
Diskussion im Workshop
Die Präsentation der Ergebnisse erfolgte im Workshop unter reger Teilnahme der WorkshopbesucherInnen. Überraschenderweise war der Großteil der TeilnehmerInnen vor allem an Fragen über die Freizeitgestaltung von erwachsenen Personen mit Behinderung, u.a. auch mit psychischen Beeinträchtigungen, interessiert. Die Übertragbarkeit des in der Studie dargestellten integrativen Modells für Kinder bzw. Jugendliche auf Erwachsene mit Behinderung wurde diskutiert.
Die Studie “Freizeit mit Hindernissen. Wie Kinder mit Behinderung ihre Freizeit erleben, die Sicht ihrer Eltern und was Anbieter von Freizeitaktivitäten dazu sagen.” (Petra Flieger, 2000) kann bei der Katholischen Jungschar Österreich, Wilhelminenstraße 91/II f, 1160 Wien, bezogen werden. E-Mail: office@jungschar.at
[1] Veröffentlichungsquelle: Feyerer, E. & Prammer, W. (Hrsg.): Qual-I-tät und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Oberösterreich, Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 2004, ISBN 3-85487-570-3, 465 Seiten.