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Guten Tag, mein Name ist Doris Stommel-Hesseler. Ich bin Mutter von zwei Kindern und stolze Oma von zwei Enkelkindern. Im November diesen Jahres darf ich auf 50 Lebensjahre zurückblicken.
Beruflich bin ich als Buchhalterin in einer Einrichtung für behinderte Menschen tätig. Hinzu kommt, dass ich mich als Buchautorin selbstständig gemacht habe und ich nun selbst Bücher schreibe über unser Leben, unsere Familie und unser Umfeld. Bisher  habe ich zwei Bücher veröffentlicht: “Ein Lächeln vielleicht” mit der ISBN-Nr. 3-00-013569-3 und “In mir ist Freude” Öffnet einen internen Link im aktuellen Fensterweitere Informationen zu `In mir ist Freude` mit der ISBN-Nr. 978-3-981062304. Die Bücher werden im Doris-Verlag vorgestellt und sind dort erhältlich, sowie im Buchhandel.
Meine Tochter Sandra ist 24 Jahre alt und widmet sich zurzeit mit Leib und Seele der Kindererziehung ihrer Söhne Elias (4) und Joel (2). Nebenbei betreut sie seit einigen Jahren ein behindertes Mädchen. Mein Sohn Björn ist 26 Jahre alt und hat seit der Geburt eine Spastische Behinderung, mit der er gut zurecht kommt. Er arbeitet mit viel Freude in der Lebenshilfe-Werkstatt in Much.
Die nachfolgenden Texte geben Ihnen einen Einblick in die Ferienfreizeit meines Sohnes und die “Geschwisterliebe” zwischen meiner Tochter und meinem Sohn. Den Text “Geschwisterliebe” hat meine Tochter verfasst. Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Lesen.

Mallorca

Heute feiert mein Sohn Björn seinen 25. Geburtstag und zwar gemeinsam mit seinem Betreuer Patrick und einem Freizeitteam der Lebenshilfe auf Mallorca. Selbstverständlich feiern wir seinen Geburtstag zu Hause  noch nach. Unser gesamtes Dorf, seine Ex-Zivis, zu denen er noch Kontakt hat, seine Freunde, Betreuer und die Familienangehörigen sind eingeladen. Unser Nachbar leiht uns sein Zelt und die Zeltgarnituren werden von der Dorfgemeinschaft zusammengetragen. Zum ersten Mal ist Björn an seinem Geburtstag nicht daheim. Ich stelle mir gerade vor, wie er sich auf Mallorca hochleben lässt, mit den Frauen flirtet und seinen Charme nach allen Seiten versprüht, denn davon hat er ja zum Glück reichlich. Er lebt und feiert so gerne, ich bin schon gespannt darauf, was er uns alles zu erzählen hat, wenn wir ihn am Flughafen abholen.
Ich habe heute Zeit, einen kleinen Rückblick auf unser Leben zu werfen. Heute vor 25 Jahren kam nicht nur Björn zur Welt, sondern auch seine beiden Brüder Kai und Sven. Leider haben sie die erste Lebenswoche nicht überlebt, ihre Lungen waren nicht ausgereift. Björn hat gekämpft, hat sehr leiden müssen; er hat schwer behindert überlebt. Bereits in seiner zweiten Lebenswoche wurde er am Herzen operiert, er hatte damals ein Gewicht von 1000 g. In Gedanken nannte ich ihn “Kleine Zuckertüte”.
Ich vergesse nie den Augenblick, als ich ihn das erste Mal in der Isolette der Kinderklinik gesehen habe. Ich hatte auf eigene Verantwortung die Frauenklinik nach meinem Kaiserschnitt verlassen und konnte mich kaum auf den Beinen halten. Seine Brüder habe ich nicht kennen gelernt. Ich bekam es mit der  Angst zu tun, dass auch er stirbt, wenn ich nicht ganz schnell zu ihm in die Klinik eile. Die Ärztin machte mich darauf aufmerksam, dass ich mir eventuell unter ihm ein “normales” Kind vorstelle, er aber in einem etwas anderen Zustand in der Isolette liegt. Er hat ausgesehen wie ein kleiner brauner Affe. Unter seiner Haut konnte ich jedes Äderchen erkennen, sein Gesicht war ganz schrumpelig, er war mit dünnen Haaren übersät. Überall an seinen kleinen Körperteilen saßen Kabel, die sein kleines und junges Leben überwachten.
Zu diesem Zeitpunkt konnte uns niemand sagen, ob er überleben wird. Sein Leben hing am seidenen Faden, den Kabeln und Schläuchen. Die Sorge und Angst, auch ihn zu verlieren, hat mir damals keine Zeit für tiefe Trauer gelassen. Jedes Gramm, das er zugenommen hat, war von großer Bedeutung. Nach der Herzoperation hatte er wieder an Gewicht verloren. Ich habe wieder gezittert vor Angst, wenn das Telefon klingelte. “Hoffentlich keine schlechte Nachricht aus der Kinderklinik”, war mein erster Gedanke.
Ein Vierteljahr haben wir warten müssen, bis wir ihn heimholen konnten. Dieses Vierteljahr hat aus mir einen anderen Menschen gemacht. Es war alles vorbereitet für die Heimkehr von drei Kindern. Die Beerdigung seiner Brüder musste organisiert werden. Die Nachbarschaft konnte mit unserem Schicksalsschlag nicht umgehen. Meine Arbeitsstelle und die Kollegen waren nicht mehr da, ich lebte wie in einem Vakuum.
Die Ärzte und Schwestern der Kinderklinik haben mir zu dieser Zeit sehr geholfen und immer wieder Mut gemacht. Ganz langsam kam unter Björns Haut ein Gramm nach dem anderen. Als sein Gewicht fünf Pfund erreicht hatte, hat er ausgesehen wie ein ganz normales süßes Baby. Wie schwer seine Behinderung einmal sein sollte, konnte niemand voraussagen. Mit dem kleinsten Strampler, den ich kaufen konnte, haben wir ihn abgeholt.
Endlich war er daheim. Leider hat er sich nicht gefreut. Er hat geschrieen und geschrieen. Nachts bin ich alle zwei Stunden aufgestanden, damit er 20g Nahrung zu sich nahm. Danach gab es Blähungen und Geschrei, ein wenig unruhiger Schlaf usw. Nachdem er sich eine Woche bei uns einleben durfte, hat der Kinderarzt ihm Gymnastik verordnet, die 4 x täglich durchgeführt werden musste.
Nach ca. einem halben Jahr wurde Björn ruhiger und freundlicher. Sein wahres sonniges Wesen rückte in den Vordergrund. Er hat gestrahlt und gelacht, als wollte er die Vergangenheit von sich abschütteln. Nachdem ich einige Spaziergänge mit ihm unternommen habe, besuchte uns die Nachbarschaft und brachte viele Geschenke.
Wir haben andere Kinder eingeladen und ganz allmählich entwickelte sich ein annähernd normales Familienleben. Schon zu dieser Zeit hat er seinen berühmten Charme versprüht. Nun konnte er sogar mit der Krankengymnastin flirten. Die Ärzte waren mit seiner Entwicklung sehr zufrieden, er war organisch gesund und entwickelte sich zu einem guten Esser. Er hat angefangen, sich auf dem Boden vorwärts zu bewegen. Es war eine sehr eigenartige Art der Fortbewegung: “Die Beine wurden angezogen, der Kopf lag auf dem Boden, die Arme nach hinten gestreckt und mit einem Ruck der Beine wurden Kopf, Rumpf und Arme ein Stück nach vorne befördert.” Danach schielte er Beifall heischend in meine Richtung. Nach dem entsprechenden Lob folgte der nächste Ruck.
Vielleicht wollte man uns damals in der Kinderklinik nicht sagen, dass er eine spastische Behinderung hat. Es hat immer geheißen er benötigt viel Zeit, er ist in seiner Entwicklung sehr zurück. Im zweiten Lebensjahr haben wir einen Untersuchungstermin beim Kinderarzt in Wohnortnähe wahrgenommen. Dieser eröffnete uns ohne Umschweife den wahren Stand seiner Behinderung. “Ein Postbote wird er ja nicht”, sagte er im Laufe der Untersuchung. Auf unsere Nachfrage, wie er das denn meint antwortete er: “Er wird nie laufen können.” Wir waren wie vom Donner gerührt. Zuhause angekommen, wählte ich umgehend die Telefonnummer der Kinderärztin aus der Kinderklinik und erzählte ihr von dem Untersuchungsbefund. Sie erschien mir irgendwie erleichtert, dass uns diese Diagnose ein anderer Arzt mitgeteilt hatte, sagte aber, in einem so frühen Stadium einer Spastik kann sich durch gezielte Therapie sehr viel zum Positiven ändern.
Björn hat alle Therapien bekommen, die ein Kind benötigt, um eine Behinderung zu lindern: 4 x täglich Krankengymnastik, Ergotherapie, Schwimmen, Reiten und Sprachtherapie. Eine Zeit lang, ca. ein halbes Jahr, haben wir von der Bobath-Methode zur Vojta-Gymnastik gewechselt. Diese Art der Krankengymnastik haben meine Nerven nicht ausgehalten.  Ich musste ihn ganz fest in einer vorgeschriebenen Position halten. Er hat verzweifelt versucht sich daraus zu befreien. Auf diese Weise sollten Bewegungsabläufe angebahnt werden, wie z.B. das Krabbeln. Sein Gesicht war nach einigen Übungen von seinem verzweifelten Geschrei so verquollen, dass er sich nicht mehr ähnlich gesehen hat. Wir sind dann wieder zu der Bobath-Methode übergegangen, bei der er aktiv und spielerisch mitarbeiten konnte. Die Sprachtherapeutin teilte mir mit, dass ich mich mit ihm niemals unterhalten könnte, sondern er würde nur einzelne Worte sprechen lernen.
Sie hat nicht Recht behalten. Ich und jeder Andere auch kann heute mit Björn die tollsten Gespräche führen. Es ist eine Freude, sich mit ihm zu unterhalten. Er hat so eine wunderbare positive Lebenseinstellung. Laufen hat er nicht gelernt, aber ich habe ihn noch nie darüber klagen hören. Seinen Elektro-Rollstuhl beherrscht er perfekt, er bringt ihn überall hin. In all den Jahren war es mir wichtig, dass ich ihn nicht mit Therapien überfordere, sondern dass er die Möglichkeit hat, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln, dass er Freude hat im Leben und Zeit für schöne Dinge.
Als ihm 1999  eine schwere Skolioseoperation bevorstand, haben wir noch einmal große Angst um ihn gehabt. Seine Bandscheiben wurden komplett entfernt. Heute führen zwei Titanstangen von seinem Nacken bis zum Steiß. Er ist wieder gerade und schmerzfrei, hat die Operation gut überstanden und seine Lebensqualität hat sich deutlich verbessert.
Ich bin kein Vorzeige-Christ und die Kirche sieht mich selten, aber ich habe viel für ihn gebetet und tue es immer noch. Die Gebete haben mich stark und gelassen gemacht. Wenn ich nicht in all den Jahren gewusst hätte, da ist Gott, der uns hilft, wäre ich heute mit Gewissheit ein Nervenbündel.
Das Leben ist nicht immer einfach mit ihm. Er ist so groß wie ich, hat inzwischen das gleiche Gewicht wie ich, sein Elektro-Rollstuhl erinnert mich an einen Mini-Panzer. Lifter, Toilettenstuhl, Pflegebad und Pflegebett schmücken unser Haus. Wir sind in unserer Freizeit eingeschränkt, da wir ständig auf ihn Rücksicht nehmen müssen. Oft wünsche ich mir abends, wenn ich total k.o. bin, ich wäre die “Bezaubernde Jeanny” und mit einem Fingerschnipp, oder Augenblinzeln, wäre er im Bett verschwunden. Oder ich sage einfach zu ihm, wenn er zu Bett möchte: “Ja, dann geh doch”, worauf er lacht und sagst: “Du weißt doch, ich würde alleine gehen, wenn ich könnte.” Zum Glück habe ich, als er zehn Jahre und seine Schwester acht Jahre alt waren, nach dem Scheitern meiner ersten Ehe einen Mann kennen gelernt, der mit uns alle Höhen und Tiefen meistert. Meine Kinder und mein Mann, sind die besten Freunde und halten zusammen, egal was kommt.
Björns Schwester Sandra hat oft zurückstehen müssen. Inzwischen ist sie Mutter von zwei Kindern. Eine ganz wunderbare Mutter, ich hätte es ehrlich gesagt nie erwartet, weil alle ihre Tiere den Hungertod erlitten hätten, wären sie nicht von mir versorgt worden. Als ich ihr vor einigen Monaten mein schlechtes Gewissen gebeichtet habe, darüber dass sie oft hinter Björn zurückstehen musste, sagte sie zu mir: “Mama, wenn das Leben mit Björn für mich nicht so gewesen wäre, wie es verlaufen ist, dann wäre ich  nicht der Mensch, der ich heute bin.” Ich bin sehr stolz auf meine Tochter und ihren Mann Michael und darauf wie sie in jungen Jahren das Leben mit zwei Kindern meistern.
Ja, rückblickend kann ich sagen: Ich habe es geschafft!” Mein Leben ist nicht so verlaufen, wie ich es mir ausgemalt habe. Natürlich hatte ich mir ein Leben mit gesunden, eineiigen Drillingen vorgestellt und ausgemalt. Aber das Schicksal hatte etwas anderes für mich vorbereitet. Ich führe mit meinem zweiten Mann eine sehr glückliche Ehe, für die ich dankbar bin. Meine Tochter wäre sicherlich nicht geboren, hätten die Drillinge alle überlebt. Ich bin so froh, dass sie geboren ist. Inzwischen bin ich Großmutter von zwei herrlichen Enkelkindern.  Meine Erfahrungen, die ich als Mutter eines schwerst-mehrfach-behinderten Kindes machen durfte, habe ich in zwei Büchern verfasst, gemeinsam mit Eltern und Großeltern anderer besonderer Kinder.
Das Schreiben und die Kontakte zu anderen Betroffenen liegen mir sehr am Herzen und bereichern mein Leben. Mein “Hobby” ist ein schöner Ausgleich zu meiner hauptberuflichen Tätigkeit als Buchhalterin in einer Einrichtung für behinderte Menschen.
Das Leben mit einem behinderten Kind ist nicht immer einfach, aber es macht stark, es befreit von Vorurteilen, es öffnet die Sicht auf die wichtigen Dinge im Leben. Menschen die ständig jammern, unzufrieden, missgünstig und unkollegial sind, sind mir ein Gräuel. Leider kann ich diesen nicht immer aus dem Weg gehen. Wenn mich der Frust in diesen Situationen ganz besonders packt, denke ich an die schweren Zeiten die wir gemeinsam überstanden haben und ich sage mir: “Doris, nichts haut dich mehr um.”
Ihre Doris Stommel-Hesseler
Kommen wir nun zu einem Text, den meine Tochter selbst geschrieben hat. Er lautet:

"Geschwisterliebe"!!!

Mein Wunsch ist es, dass viele Menschen durch die Bücher meiner Mutter eine positive Meinung über behinderte Menschen erlangen. Es erstaunt mich, dass immer noch so viele Menschen teilweise  ängstlich und verunsichert gegenüber behinderten Menschen sind. Ich habe einen spastisch behinderten Bruder im Alter von 25 Jahren. Sein Name ist Björn Stommel. Einige von Ihnen kennen ihn gewiss aus seinem Buch “Ein Lächeln vielleicht”. Ich bin seine Schwester und 24 Jahre alt. In meinen Augen war mein Bruder immer normal. Als Kind habe ich nie darüber nachgedacht, warum er nicht laufen kann. Für mich ist er in erster Linie mein Bruder, wie dass bei allen anderen Geschwistern auch der Fall ist.
Es war mir zwar stets bewusst, dass, wenn wir uns gestritten haben, er den Kürzeren zog. Manche von Ihnen werden jetzt vielleicht denken: “Der arme Junge, er kann sich doch nicht wehren”, aber er kann sich wehren, wenn auch auf eine andere Weise  wie  ich. Wenn er sauer auf mich war, hat er mit seinem Elektro-Rolli mein Fahrrad umgefahren. Zwischen Geschwistern gibt es schon mal Zoff, dass war bei uns nicht anders. Mitleid mag Björn überhaupt nicht. Wie ich festgestellt habe, mögen die wenigsten behinderten Menschen, wenn man sie bemitleidet. Viel lieber ist es ihnen, wenn man sie genauso  behandelt wie andere Menschen auch. Björn fragt sich: “Wofür bemitleidet ihr mich, ich bin doch glücklich, seht ihr nicht wie ich lache?” Björn lacht oft und gerne.
Viele Menschen denken, dass es schlimm ist behindert zu sein. Ich habe erfahren dürfen, dass es besondere Menschen sind, die trotz ihrer Umstände sehr glücklich sind und teilweise ein großes Wissen in sich tragen. Sie sind mit vielen Dingen zufrieden, die unsereiner nicht einmal beachtet. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass eine Einschränkung in körperlicher Hinsicht eine Weiterentwicklung in anderen Dingen zur Folge hat. Ein blinder Mensch z.B. widmet sich viel mehr den Tönen und Klängen von Lauten, so dass er Klänge hört, die wir gar nicht wahrnehmen, weil wir viel zu oberflächlich hinhören. Er kann an der Stimme erkennen, ob ein Mensch glücklich oder traurig ist. Wir stellen das oft mit Augen und Ohren nicht fest.
Seit vier Jahren betreue ich ein behindertes Mädchen. Ihr Name ist Cigdem und sie ist 18 Jahre alt. Manchmal fragt sie mich, ob es mir nicht gut geht. Ich schüttele dann meinen Kopf, weil ich es vielleicht schon verdrängt habe.
Sie glaubt mir dann nicht und so finde ich in ihr an manchen Tagen den Menschen, der mich besser kennt, als ich mich selbst. Ein Leben ohne meinen Bruder Björn, kann und möchte ich mir nicht vorstellen. Er gehört zu meinem Leben wie die Luft zum Atmen.
Mir persönlich ist es sehr wichtig, dass man sich mit behinderten Menschen auseinandersetzt. Wir können viel von ihnen lernen, nicht nur sie von uns! Sie sind ein kostbarer Teil unserer Gesellschaft.
Sandra Dorfmüller
(von Doris Stommel-Hesseler und Sandra Dorfmüller)