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von Ulrike Schwarz, Leiterin des Lehrganges “Integrative Jugendarbeit”, ÖAV, entnommen von [1].
Freizeit im Leben behinderter Menschen
Der von Opaschowski (1996) geprägte “positive Freizeitbegriff” ist grundsätzlich auf alle Bevölkerungsgruppen anwendbar, so auch für behinderte Menschen:
Freizeit ist Lebenszeit, die durch mehr oder minder große Dispositionsfreiheit und Entscheidungskompetenz charakterisiert ist. Die Lebensverhältnisse des einzelnen Menschen und die Gesellschaft bestimmen Freizeit. Bei behinderten Menschen bleibt oft neben Therapie, Arbeit und den alltäglichen Versorgungsmaßnahmen kaum frei verfügbare Zeit über. Die Möglichkeit Kontakt, Gemeinschaft, Geselligkeit zu erleben, sich kreativ zu entfalten und am gesellschaftlichen und kulturellen Leben teilzunehmen sind sehr eingeschränkt.
Behinderte Menschen haben grundsätzlich die gleichen Bedürfnisse wie nicht behinderte Menschen. Abhängig von Art und Schweregrad der Beeinträchtigung ergeben sich mitunter aber völlig anders gelagerte Probleme, die dazu führen, dass die Bedürfnisse unterschiedlich gewichtet sind und zum Ausdruck gebracht werden.
Allgemeine Erschwernisse, die sich für Menschen mit Behinderung im Freizeitbereich ergeben, sind z.B.:

  • eine starke familiäre oder institutionelle Bindung
  • verringerte Mobilität
  • viel Zeit und Unterstützung für die alltägliche Versorgungsmaßnahmen (Körperpflege, Nahrungszubereitung)
  • Therapie- und Rehabilitätsübermaß
  • starke Kompensations- und Regenerationswünsche infolge Überbeanspruchung
  • fehlende Kontakte zu Gleichaltrigen
  • Unzugänglichkeit von öffentlichen Verkehrsmitteln und Freizeiteinrichtungen
  • Erreichbarkeitsprobleme – große Entfernungen
  • Selbstisolierungstendenzen – sehen sich als Hemmschuh, als Störfaktor
  • eine unzureichende Ausbildung von Interessen – und Freizeitgewohnheiten
  • zu wenig, allgemein zugängliche Freizeitangebote

Um aktiv und selbstbestimmt am gesellschaftlichen Leben teil nehmen zu können braucht es AssistentInnen, welche die Betroffenen selbst aussuchen können und eine Veränderung des Bildes von behinderten Menschen. Es ist notwendig, die alten diskreditierenden und defekt-orientierten Bilder über Menschen mit Behinderungen zu überwinden und sie als gleichberechtigt anzuerkennen. Es gib darum, MIT ihnen statt ÜBER sie zu reden, sie ernst zu nehmen und in allen Bereichen des Lebens aktiv mit einzubinden.
Erlebnispädagogik als besondere Chance zur Persönlichkeitsbildung und Integration
Erleben und Erlebnis sind zu Kultwörtern unserer Zeit geworden und lassen sich gut verkaufen. Ein Erlebnis ist aber etwas besonderes, hebt sich aus dem Fluss des alltäglichen hervor und man kann es nicht einfach konsumieren. Tiefes Erleben lässt Leben erst spüren, zeigt Grenzen und Öffnungen auf der Suche nach Identität. Aber auch Erlebnispädagogik läuft Gefahr zur Modeerscheinung zu werden, wenn sie ihre grundlegenden Ziele verliert: Lernen, Erziehung, Bildung, Therapie und Training (Heckmaier/Michl, 1998).
Claudia ist eher ängstlich und schwerfällig – doch beim ersten Anprobieren der Klettergurte, nach den ersten Versuchen ist sie nicht mehr abzuhalten vom Mittun auch an der Kletterwand. Es ist nicht wichtig die ganze Route zu schaffen. Aber sie ist mächtig stolz sich getraut zu haben, im Seil zu hängen ohne festen Boden unter den Füßen zu spüren.
Klettern, eine anstrengende Bergtour, eine Höhlenbefahrung beinhalten als ein wesentliches Element die Herausforderung. Diese zu bewältigen, gibt das Gefühl, oft im Gegensatz zum Alltag, das eigene Tun und dessen Konsequenz selbst in der Hand zu haben! Auch Naturerfahrungsübungen und -spiele, Wanderungen, ein Biwak unter freiem Himmel, ein kurzes Wegstück mit verbunden Augen oder ein gemeinsam überwundenes Hindernis schaffen oft ebenso nachhaltige Eindrücke. Sie machen die Natur und die anderen Menschen sicht- und fühlbar. Es ist Zeit und Ruhe, sie wahrzunehmen, sich ihnen zu widmen, sie auf sich wirken zu lassen.
Erlebnisorientierte Aktivitäten bieten die Chance in der (integrativen) Gruppe eingeschliffene Rollenmuster aufzubrechen. Sie bringen überraschende Talente und Fähigkeiten ans Tageslicht, z. B. in der Höhle ist der/die Kleinste am größten.
Vollkommen verfehlt wäre es, behinderte Menschen Erlebnisse nur passiv konsumieren zu lassen, sie z. B. “spazieren zu segeln”. Die behinderten TeilnehmerInnen müssen als vollwertige Mitglieder der Erlebnisgruppe eingebunden und in ihren aktiven Anteilen gefordert und gefördert werden. Soviel Unterstützung wie nötig, soviel Selbstständigkeit wie möglich ist das leitende Prinzip.
Integrative Angebote – eine Herausforderung für alle Beteiligten
Aktivitäten in der Freizeit müssen nicht immer nur einem bestimmten “pädagogischen” Ziel oder der Therapie dienen, sie dürfen einfach auch nur Spaß machen! “Soziale Integration gelingt vor allem in der wenig >verregelten< Freizeit", ist die Erfahrung vieler betroffener Eltern. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung in der Freizeit ist immer noch die Privatangelegenheit Einzelner, von Müttern und Vätern ebenso wie von einzelnen engagierten GruppenleiterInnen und AnimateurInnen, ist aber das Ergebnis aus der einer Studie (Flieger 1999). Es braucht daher Bemühungen von allen Seiten um den Weg der Integration fort zu setzen. JugendleiterInnen brauchen neben der allgemeinen fachlichen Qualifizierung für die jeweiligen Aktivitäten vor allem die Bereitschaft, sich auf Neues einzulassen, Spontaneität und Kreativität. Der Lehrgang "Jugendarbeit integrativ" im Rahmen der Obernberger Seminare des ÖAV bietet eine intensive Auseinandersetzung mit den Themen Behinderung und Integration an sowie Inputs über rechtliche Aspekte, zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen oder Erste Hilfe. Verschiede Kommunikationsmöglichkeiten werden ausprobiert und gruppendynamische Prozesse reflektiert. Der methodische Schwerpunkt liegt im eigenen Erleben, ausprobieren und reflektieren, denn ein Weg mit verbundenen Augen oder im Rollstuhl zurück gelegt lässt leichter erkennen, welche Unterstützungsmaßnahmen notwendig und gewünscht sind bzw. wo die Möglichkeiten oder Grenzen der Aktivität liegen. Wichtig für die BegleiterInnen ist es zu erkennen, wo brauche ich professionelle Hilfe, z.B. einen Bergführer oder therapeutische Unterstützung. Ein offenes Ansprechen der eigenen Ängste und Befürchtungen und der Austausch darüber im Team oder bei den Verantwortlichen sind hilfreich. Grenzüberschreitungen in beide Richtungen sind tabu. Die BegleiterInnen sollen nichts tun, was ihnen unangenehm und unsicher erscheint. Auch die Betroffenen dürfen ihre Bedürfnisse äußern und selbst entscheiden, was für sie gut ist. "Attacke" ruft Sandra und schon saust ein Jugendlicher mit ihr im Rollstuhl los. Schnell entwickeln sich wie von selbst Regeln für das etwas andere Fußballspiel und alle sind mit vollem Einsatz und großer Begeisterung dabei. Es geht nicht um Mitleid oder eine Sonderstellung für die behinderten Jugendlichen, sondern darum, die Angebote so abzuwandeln, dass annähernd gleiche Bedingungen für alle geschaffen sind. So bekommen z. B. bei Bewegungsspielen die nicht behinderten Jugendlichen die "Auflage", auf einem Bein zu hüpfen. Entschleunigung und weniger Leistungsorientierung bringt Zeit und Muße für die Gruppe. Nicht mehr das Ziel alleine ist wichtig sondern der gemeinsame Weg dorthin. Die Aktivitäten müssen so gewählt werden, dass sie allen Jugendlichen Spaß machen oder auch für nicht behinderte Jugendliche eine Herausforderung darstellen. Um gut zu planen (z.B. wieviele zusätzliche Begleitpersonen sind notwendig) ist es wichtig  über die TeilnehmerInnen Bescheid zu wissen. Betroffene, Eltern oder BetreuerInnen müssen daher schon bei der Anmeldung zusätzliche Bedürfnisse, Hilfsmaterialien oder notwendige pflegerische, medizinische Maßnahmen mitteilen. Vieles aber wird sehr schnell im Kontakt mit den Betroffenen ersichtlich. Barrieren sind nicht nur im baulichen Bereich zu finden, sondern auch in unseren Köpfen.

  • die allgemeinen Angebote für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu öffnen (aktiv zu bewerben)
  • individuelle Unterstützung der Betroffenen sicherzustellen
  • ideelle, finanzielle und (gesellschafts)politische Unterstützung zu gewährleisten
  • eine akzeptierende Grundhaltung, ein humanistisches Menschenbild zu haben
  • offen zu sein gegenüber “Neuem”, “Anderem”
  • individuelle Bedürfnisse zulassen
  • Spiele, Spielmaterialien und Aktivitäten den Fähigkeiten und Bedürfnissen anzupassen
  • nicht sportlichen Ehrgeiz sondern das gemeinsame Tun in den Vordergrund zu stellen
  • sich zu informieren und Unterstützung annehmen zu können
  • Ängste und Bedürfnissen aller Beteiligten ernst zu nehmen

Die unterschiedlichen Behinderungen, Bedarfe und Möglichkeiten in einer integrativen Gruppe fordern alle Beteiligten auf, neue Wege zur Realisierung von Sportarten oder beliebter Freizeitaktivitäten zu suchen. Die damit verbundene Auseinandersetzung unter einem neuen Blickwinkel stellt nicht selten auch eine ganz persönliche Bereicherung dar.
Literaturhinweise:
Opaschowski, Horst. Pädagogik der freien Lebenszeit, 1996
Markowetz, Reinhard & Cloerkes, Günther: Freizeit im Leben behinderter Menschen. Theoretische Grundlagen und sozialintegrative Praxis, 2000
Heckmair, Bernd & Michl, Werner. Erleben und Lernen, 1998
Flieger, Petra. Freizeit mit Hindernissen, Studie der Kath. Jugend, 1999
3D Special der ÖAV-Jugend. Freizeit – Natur – Sport, Leben mit Handicap, 2003
[1] Veröffentlichungsquelle: Feyerer, E. & Prammer, W. (Hrsg.): Qual-I-tät und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Oberösterreich, Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 2004, ISBN 3-85487-570-3, 465 Seiten.