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Austausch von Behindertenorganisationen mit VertreterInnen der Stadt Linz, der Wiener Stadtverwaltung, der Wiener Linien und ExpertInnen für Barrierefreiheit

Großes Interesse herrschte am vergangenen Freitag, 17. Mai, am Walkshop zum Thema „Öffentlicher Raum – barrierefrei für alle?!“. Der Einladung zum Erfahrungsaustausch über Planungs- und Umsetzungsprozesse folgten 25 TeilnehmerInnen in die Wiener Mariahilfer Straße, die Herrengasse und zu einer Straßenbahn Station der Wiener Linien. Auf Initiative und Einladung des Österreichischen Behindertenrates und des Forums Öffentlicher Raum der Stadt Wien konnten VertreterInnen der MA18 – Stadtentwicklung und Stadtplanung, der MA19 – Architektur und Stadtgestaltung, der MA28 – Straßenverwaltung und Straßenbau, der Mobilitätsagentur Wien, der Stadt Linz, der Wiener Linien und StudentInnen genauso begrüßt werden wie VertreterInnen des Vereins Blickkontakt, der Hilfsgemeinschaft der Blinden und Sehschwachen Österreichs, des Blinden und Sehbehindertenverbands Österreich, von Assistenz 24 und dem ÖZIV Bundesverband.
Die Frage nach der Barrierefreiheit des öffentlichen Raumes wurde aus der jeweils ganz spezifischen Sicht unterschiedlicher NutzerInnen – wie blinden Menschen, Personen mit Sehbehinderungen, MobilitätstrainerInnen, MobilitätstrainerInnen in Ausbildung, Personen mit Sehbehinderungen und NutzerInnen von mechanischen und E-Rollstühlen – diskutiert.

„Menschen sind nicht behindert, Menschen werden behindert.“

Nach einer Begrüßung durch Beatrice Stude vom Forum Öffentlicher Raum und einer Vorstellungsrunde aller TeilnehmerInnen zur Förderung des Austausches und der Vernetzung erfolgte eine kurze Einleitung. Entsprechend der UN Konvention für die Rechte von Menschen mit Behinderungen lud der Organisator des Walkshops Emil Benesch (Österreichischer Behindertenrat) die TeilnehmerInnen zu einem Perspektivenwechsel ein, um den öffentlichen Raum aus der Sicht von Menschen mit Behinderungen zu erleben. Das gemeinsame Ziel war, Barrieren als solche wahrzunehmen und in Planung und Umsetzung zu vermeiden bzw. abzubauen.

Die erste Wahl – Hausmauern und Gehsteigkanten

In der Begegnungs- und Fußgängerzone Mariahilfer Straße berichtete Wolfgang Kremser vom Verein Blickkontakt über die seinerzeitige Einbindung als Leiter der AG Verkehrsgremium Ost von Personen mit Sehbehinderungen bei der Planung des Umbaus der Mariahilfer Straße: „Vorhandene Orientierungsmöglichkeiten wie Hausmauern oder Randsteinkanten stehen für uns blinde Menschen an erster Stelle. Erst wenn vorhandene Strukturen nicht zu Orientierung nutzbar sind, sprechen wir uns für die Einrichtung eines taktilen Leitsystems aus“. Die Mobilitätstrainerin für Menschen mit Sehbehinderungen, Andrea Wahl, ergänzte, dass Menschen mit Sehbehinderungen auch akustische und visuelle Leitlinien nutzen und dies schon bei Planungen zu berücksichtigen wäre. Aufgrund von Ausräumungen von Pflanzentrögen oder Sitzgelegenheiten durch Geschäftsinhaber entlang der Gebäude wurde in der Mariahilfer Straße ein taktiles Leitsystem – parallel zu Hausmauern und Fahrbahn – professionell geplant und verlegt. In der Praxis zeigen sich bei Errichtung und Nutzung eines taktilen Leitsystems jedoch einige Hürden und Herausforderungen:
Hürde 1 – Am Leitsystem werden von sehenden Personen Gegenstände abgestellt. Die Nutzung eines blockierten Leitsystems durch blinde Menschen mit Langstock birgt dann ein hohes Unfallsrisiko. Am Tag des Walkshops trafen wir auf von Handwerkern abgestellte Maschinen.
Hürde 2 – Ist neben dem taktilen Leitsystem kein Platz, oder Hindernisse reichen zu nah an das Leitsystem heran, besteht akute Gefahr eines Zusammenstoßes und Verletzungsgefahr. Deshalb sieht auch eine Norm vor, neben dem Leitsystem jeweils 40-50 cm Platz frei zu halten. Scharfkantige Mistkübel oder Sessel von Lokalen im Nahbereich des Leitsystems bedeuten akute Unfall- und Verletzungsgefahr. Die Vertreterin der MA 28 hat seitens der Stadt angeboten, Kontrollen des frei zu haltenden Streifens zu veranlassen.
Hürde 3 – Ist das Leitsystem nicht nach wenigen und klaren Regeln zu nutzen, wird es für blinde Menschen unnötig verwirrend bis unverwendbar. Eine Abzweigung vom Leitsystem in eine Seitengasse der Mariahilfer Straße beispielsweise soll daher möglichst oft nach dem gleichen Schema erfolgen. Die Vertreterin der Stadt Wien aus dem Bereich Straßenplanung nimmt diese Anregung der blinden Menschen auf.
Hürde 4 – Neben dem taktilen Leitsystem mit Rillen benötigt es eine glatte Fläche daneben – laut Norm von mindestens 30 cm Breite -, um mit dem Langstock taktil einen Unterschied zu spüren und Orientierung zu ermöglichen. Wird das Leitsystem, etwa bei Querung einer Fahrbahn, in ein Kopfsteinpflaster verlegt, sind seitlich glatte Steine vorzusehen.
Wenn vorhandene Strukturen zur taktilen Orientierung nicht zur Verfügung stehen und als Ersatz taktile Leitsysteme vorgesehen werden, ist zu beachten: Sie müssen am richtigen Ort, mit langlebigen Materialien gebaut und in der Folge kontinuierlich gewartet werden. Es ist sicherzustellen, dass taktile Leitsysteme zusammenhängend geplant werden und bleiben. Sie dürfen nicht nachträglich überbaut werden und müssen vor dem Missbrauch als Abstellplatz für Gegenstände bewahrt werden.
Menschen mit Gehbehinderungen profitieren vom Umbau der Mariahilfer Straße zur Begegnungs- und Fußgängerzone durch die weitegehend niveaugleiche Bodenoberfläche, den zusätzlichen Raum für FussgängerInnen und den Wegfall von Stufen im öffentlichen Raum. Während die Stadt Wien in der Mariahilfer Straße um den Abbau von Barrieren bemüht war, legen sich angrenzende Geschäftsinhaber in Sachen Barrierefreiheit bis heute quer.

Wie barrierefrei können Menschen mit Behinderungen einkaufen?

Angelika Parfuss vom ÖZIV Bundesverband präsentierte am Walkshop eine Studie zur Barrierefreiheit von Geschäftslokalen für Menschen mit Gehbehinderungen. In der Mariahilfer Straße gibt es 71,5% stufenlose Eingänge. Im Schnitt ist in Wiener Einkaufsstraßen sogar nur knapp jedes zweite Geschäftslokal ohne Stufe zu erreichen. Dabei gilt: Laut dem Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen müssen seit dem Jahr 2016, nach einer 10-jährigen Übergangsfrist, alle öffentlich zugänglichen Geschäftslokale barrierefrei sein. Das bedeutet, dass Geschäftslokale unter anderem einen stufenlosen Eingang haben müssen.
Geschäftsinhaber, die einen barrierefreien Eingang verweigern, wälzen ihre eigene Verantwortung auf Ihre MitarbeiterInnen ab. Bei einem Geschäftslokal ist es ein Security Mitarbeiter, der auf Wunsch eine Rampe in Position bringt. Stufen im Geschäftseingang stellen für NutzerInnen von Rollstühlen eine Diskriminierung dar. Diese Erfahrung machen wir Walkshop TeilnehmerInnen als Artur Belja im E-Rollstuhl sitzend bei einer Fastfood-Kette klingelt. Eine vom Mittagsgeschäft gestresste Mitarbeiterin lässt erst lange auf sich warten und knallt dann die Rampe auf die Stufe, dass sie zunächst schief zu liegen kommt.
Da gemäß ÖZIV Studie von GeschäftsinhaberInnen in Wiener Einkaufsstraßen keine Anstalten unternommen werden, um die Missstände zu beheben – im Zeitraum von 2016 bis 2018 waren keine messbaren Verbesserungen zu beobachten – begrüßen wir umso mehr eine aktuelle Initiative von Maria Grundner und der Mobilitätsagentur Wien. Sie zielt darauf ab Geschäftsleute in der Josefstädter Straße zum Abbau von Barrieren zu motivieren.

Warten und Hoffen auf die richtige U-Bahn

Von der Mariahilfer Straße führte uns der Walkshop per U3 in die Herrengasse. Diesmal hatte Artur Belja Glück. Er musste mit seinem E- Rollstuhl nicht 45 Minuten warten bis eine U-Bahn in die Station einfährt, die über eine ausfahrende Trittstufe verfügt und das Einsteigen mit Rollstuhl ermöglicht. Eine große Barriere und Erschwernis sind für ihn und alle anderen NutzerInnen von Rollstühlen alte U-Bahnzüge ohne ausfahrender Trittstufe. Bei diesen bildet der große Spalt zwischen Bahnsteig und Fahrzeug ein unüberwindliches Hindernis. In der Praxis wartet Artur Belja bis zu 45 Minuten auf eine für ihn nutzbare U-Bahn. Da vom Verkehrsunternehmen nicht vorab informiert wird, wann ein barrierefreier U-Bahnzug zu erwarten ist, müssen NutzerInnen von Rollstühlen warten und hoffen. Ein Vertreter der Wiener Linien verspricht, sich der Frage anzunehmen.

„Begegnungszone“ Herrengasse

Der Weg in die Herrengasse führte uns über den Minoritenplatz. Wir treffen auf großflächig verlegtes Großsteinpflaster. Für NutzerInnen von Rollstühlen eine Tortur und Barriere. Martin Belja: „Da spürst jede Unebenheit in den Bandscheiben“. Blinde Menschen wiederum haben beim Gehen über den Platz keine Struktur, an der sie sich von der U3 Haltestelle kommend, orientieren können. „Ein glatter, linearer Streifen aus größeren Steinen über den Pflastersteinen verlegt, wäre eine Steigerung der Barrierefreiheit für NutzerInnen von Rollstühlen und blinde Menschen gleichermaßen“, spricht Peter Noflatscher vom ÖZIV eine Lösung an.

Barrierefreiheit auch für Menschen mit Sehbehinderungen – geplant, aber nicht gebaut

In der Herrengasse angekommen, präsentiert sich der Gruppe die neu geschaffene Begegnungszone. Weniger Verkehrstafeln, weniger parkende Autos als früher prägen das Bild. Fahrbahn und Gehsteig sind niveaugleich. Fiaker, Busse, LKWs, Pkws, Fahrräder, viele Fußgänger und die traditionelle Warteschlange vor dem Café Central – es ist viel Betrieb. Für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen hat der Umbau die Nutzung erleichtert. Ganz anders ist die Erfahrung blinder Menschen in der neuen Begegnungszone Herrengasse. „Wir haben aufgrund der Ausräumungen von Pflanzentrögen und Schani Gärten weder die Möglichkeit zur Orientierung entlang der Hausmauern, noch steht ein taktiles Leitsystem zur Verfügung. Ein taktiles Leitsystem war geplant, wurde aber nicht gebaut,“ erinnert Wolfgang Kremser. Stattdessen wurden aus der Sicht blinder Menschen neue Hürden errichtet. Gehsteigkanten fehlen zur Orientierung. Der Übergang vom Gehweg zur Fahrbahn ist für blinde Menschen taktil nicht erspürbar. Da Kommunikation über Blickkontakt mit anderen Verkehrseilnehmern, wie in einer Begegnungszone üblich und erwartet, für blinde Menschen nicht möglich ist, ist die Nutzung einer Begegnungszone ein schlecht nutzbarer öffentlicher Raum voller Barrieren. Die Begegnungszone Herrengasse ist für blinde Menschen, somit keine Zone der Begegnung, sondern eine Zone des Kontrollverlusts, der Orientierungslosigkeit und Gefahr.

Straßenbahn Station Burgtheater

Zu Ende ging der Walkshop bei einer Doppelhaltestelle für Straßenbahnen auf der Ringstraße. Blinde Menschen fragen sich: Welche Straßenbahnlinie wird als Nächste einfahren? Sie können die Anzeige nicht lesen und Durchsagen gibt es keine. Menschen mit Sehbehinderungen können die Anzeige am neuen Display nicht lesen, sie spiegelt zu sehr. Wird mich der Fahrer oder die Fahrerin der Straßenbahn sehen und die Rampe auslegen? Das fragen sich Menschen, die einen Rollstuhl nutzen.

Angebot: Gemeinsam Barrieren vermeiden!

Zum Abschluss macht Emil Benesch den VertreterInnen von Stadt Wien und Wiener Linien namens des Österreichischen Behindertenrates ein Angebot zur verstärkten Zusammenarbeit: „In unserer AG für inklusive Planungsprozesse setzen sich Menschen mit Behinderungen ein die für sie spezifischen Barrieren zu vermeiden. Bei frühzeitiger, kontinuierlicher Einbindung auf Augenhöhe können wir entscheidend dazu beitragen Barrieren zu vermeiden und den öffentlichen Raum barrierefrei für alle zu machen.“
Ein Videobericht im Rahmen der Sendung ohne Barrieren auf OKTO TV folgt in 4 Wochen.

Quelle: behindertenrat.at