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Seit zehn Jahren gilt in Deutschland die Behindertenrechtskonvention – getan hat sich nur wenig. Das ist nicht gut für die Gesellschaft als Ganzes.

Sich einmal wie ein Rollstuhlfahrer fühlen. Als Blinder durch die Straßen gehen. In vielen Städten kann man das ausprobieren; Projekt Perspektivwechsel nennt sich der Ansatz. Plötzlich stellen sich einem Behinderungen allerorten in den Weg: Treppen werden zum unüberwindbaren Problem. Kein Fahrstuhl? Eine Katastrophe. Zugänge ohne Rampe? Pech gehabt.
Pech gehabt – das gilt für viele Menschen mit Behinderungen, ein ganzes Leben lang. Dabei müsste es längst nicht mehr so sein. Die UN-Behindertenrechtskonvention, die am 26. März 2009, also vor zehn Jahren, in Deutschland in Kraft trat, wollte aufräumen mit der täglichen Diskriminierung von Menschen durch Behinderungen. Mehr Teilhabe am öffentlichen Leben, Inklusion in allen Bereichen, das waren die Zauberworte. Doch der Zauber wirkt in Deutschland nur bedingt. Ist der Anspruch zu hoch; sind zehn Jahre zu kurz, um eine Gesellschaft umzukrempeln, die gewohnt war, Menschen mit Behinderungen in ein abgesondertes Lern- und Arbeitsumfeld zu drängen?
Das Ziel der UN-Behindertenrechtskonvention – Gleichberechtigung in allen Lebensbereichen – ist ein hohes Gut, ein Menschenrecht. Daran muss ein Land gemessen werden, das diese Konvention unterschreibt. Deutschland hat sich damit, wie 176 andere Staaten auch, völkerrechtlich verpflichtet, “die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft” zu verwirklichen. Doch die Barrieren, die sich Menschen mit Behinderungen täglich in den Weg stellen, wurden nur bedingt abgebaut – trotz vieler Bemühungen des Gesetzgebers und obwohl es viele lobenswerte Projekte gibt: Die Bundesregierung hat einen nationalen Aktionsplan aufgestellt, die Bahn arbeitet am barrierefreien Reisen, Behörden informieren nun in sogenannter Leichter Sprache. Doch es geht gar nicht nur um die physischen Barrieren, die fehlenden Rampen. Es geht auch um die Barrieren in den Köpfen. Und die sind groß in Deutschland.
Wie groß, zeigt die Diskussion über die Inklusion an den Schulen. Inklusion kostet Nerven, sie ist anstrengend – für die betroffenen Kinder mit und ohne Behinderung, für die Lehrer, die sie in die Tat umsetzen müssen. Wenn sie gelingen soll, kostet sie auch Geld, viel Geld – nur wurde das nicht zur Verfügung gestellt, trotz aller Beteuerungen, wie wichtig für ein Land wie Deutschland doch die Bildung sei. Zwei Lehrer pro Klasse, Individualisierung im Unterricht, ein nicht nur auf Leistung getrimmtes Lernumfeld an Schulen – das täte übrigens allen Schülern gut. Nun aber ist der Ärger über die vielfach misslingende Eingliederung von Behinderten in den Schulalltag so groß, das manche Bundesländer überlegen, Kinder mit Behinderungen wieder in ein eigens für sie geschaffenes Lernumfeld zu stecken. Das kann gut für einzelne Kinder sein. Doch es ist nicht gut für die Gesellschaft als Ganzes. Eine Gesellschaft bleibt nur menschlich, wenn sie das Unvollständige und vermeintlich Defizitäre nicht ausschließt.
Tatsächlich geht Behinderung jeden an. Jeder kann krank werden, auf einmal im Rollstuhl sitzen, der Arbeit nicht mehr gewachsen sein, psychosoziale Probleme bekommen. Und älter werden alle. Jeder, der nicht früh stirbt, wird also irgendwann die Ausgrenzung spüren, die Hürden, die einem die Teilhabe erschweren. Der Perspektivwechsel kommt dann ganz von alleine.

(Quelle: SZ, Edeltraud Rattenhuber)