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von Grubich Rainer, Volksschullehrer, Wien, entnommen aus [1].
Präambel
Am Beginn meines Beitrages ist es mir ein großes Bedürfnis, meinem Mentor und Alter Ego (in seinem positiven Sinne) bezüglich meines intensiveren Zuganges zur Thematik zu danken und respektvoll Anerkennung zu zollen. So sind für meine Auseinandersetzung mit dem Bereich “Schule, Behinderung, Gesellschaft” die Erkenntnisse und Ergebnisse der Forschungs- und Praxisarbeit von Professor Dr. Georg FEUSER, die diesen nach jahrzehntelanger Beschäftigung mit “Behinderung und Integration, im Speziellen mit Autismus” zur Fachkapazität ersten Grades in diesem Bereich gemacht haben, grundlegendes Fundamentum und weitreichende Denk- und Entwicklungsanstöße für eine allgemeine Schulentwicklung schlechthin. Sämtliche dem Projekt “Integration von Kindern mit autistischer Wahrnehmung im Wiener Regelschulwesen” zugrundeliegende Vorstellungen von Schule, Didaktik, Pädagogik, Menschenbild, Weltbild basieren auf den Grundlagen der Arbeiten von Professor Dr. Georg FEUSER.
“Das autistische Kind ist nicht autistisch.”
Autismus: “psychische Störung, die sich in krankhafter Ichbezogenheit u. affektiver Teilnahmslosigkeit, Verlust des Umweltkontaktes u. Flucht in die eigene Fantasiewelt äußert.”
In dieser allgemein geläufigen Definition von Autismus zeichnet sich das gesamte Dilemma von Menschen mit autistischer Wahrnehmung ab, dessen Tragweite einem erst nach genauerer Auseinandersetzung mit diesem Phänomen menschlicher Entwicklung bewusst wird und in mir tiefste Betroffenheit und Anteilnahme mit diesen unseren MITmenschen ausgelöst hat. Denn in dieser pathologischen Definition stecken all die Merkmalzuweisungen, die wir autistischen Menschen etikettieren (da sie uns so erscheinen), die es uns daher wieder ermöglichen, keinen Kontakt mit solchen Menschen aufzunehmen, da dies uns ja nicht möglich erscheint. Damit verhindern wir autistischen Menschen die Auseinandersetzung MIT uns und damit MIT der Welt und zwingen sie so in die Auseinandersetzung mit sich SELBST, machen sie zu SELBSTmenschen, generieren mit unserem Verhalten den Autismus selbst. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Um diesen Teufelskreis aufzubrechen bedarf es eines neuen Verständnisses von “Mensch-Sein”, in dem jede/r, unangesichts seiner individuellen ontogenetischen Entwicklung, den gleichen grundlegenden evolutionären Gesetzmäßigkeiten auf biologischer, psychischer und sozialer Ebene unterliegt, von diesen determiniert ist. Dies bedeutet, dass der Mensch als bio-psycho-soziale Einheit auf den Austausch mit der Umwelt angewiesen ist um überhaupt überleben zu können. Je eingeschränkter dieser Austausch ist (Deprivation), desto größer wird der Realitätsverlust für das System “Mensch”, desto höher wird der Isolationsgrad und desto mehr “Kompensationsmechanismen” muss das System “Mensch” anwenden um sich am Leben erhalten zu können, und seien es selbstverletzende Verhaltensweisen (die ja auch bei anderen Menschen in extremer Isolation auftauchen, nicht nur bei AutistInnen). So kann ich Menschen, die seit Jahren – oft seit Jahrzehnten – auf Grund ihrer Wahrnehmung und auf Grund des Unverständnisses der Umwelt in höchster Isolation leben müssen nur tiefsten Respekt entgegenbringen, dass sie es trotz dieser Umstände geschafft haben am Leben zu bleiben. (Manche schaffen es ohnedies nicht, und viele andere sehen dabei zu.)
“Die Dinge erschließen sich dem Menschen durch den Menschen und der Mensch sich dem Menschen über die Dinge.”
Ich werde sehr oft gefragt, was denn nun das Spezielle an der Pädagogik für autistische Kinder wäre, sozusagen welches “Geheimrezept” wir im schulischen Umgang mit ihnen anwenden. So sind die Fragesteller oft direkt enttäuscht, wenn ich ihnen antworte, dass autistische Kinder keiner speziellen Pädagogik bedürfen, ganz im Gegenteil, wir müssten unser Tun als PädagogInnen neu an einer Allgemeinen Pädagogik für alle Kinder orientieren. Diese Allgemeine Pädagogik, von Dr. Feuser entwickelt, baut auf lerntheoretischen, entwicklungspsychologischen und neurologischen Erkenntnissen auf. Mit ihr ist eine “inclusive” pädagogische Basis gegeben, auf der “alle Kinder (auch Kinder mit autistischer Wahrnehmung) und Schüler(Innen) in Kooperation miteinander, auf ihrem jeweiligen Entwicklungsniveau, nach Maßgabe ihrer momentanen Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungskompetenzen, in Orientierung auf die “nächste Zone ihrer Entwicklung”, an und mit einem “gemeinsamen Gegenstand” spielen, lernen und arbeiten.”
Mit FEUSERs “Allgemeiner (inclusiver) Pädagogik” und der darauf aufbauenden entwicklungslogischen Didaktik ist es möglich, allen Kindern ein adäquates “Lern-Umfeld” zu schaffen, in dem “Lernen” unter Berücksichtigung entwicklungsneurologischer (siehe dazu VYGOTSKIJ, LEONT`EV, BERGER) und entwicklungspsychologischer (siehe dazu PIAGET, SPITZ) Erkenntnisse als Prozess der ADAPTION der Umwelt, der Informationsaufnahme und -verarbeitung im Zentralnervensystem (Gehirn) verstanden wird. Dieser Ansatz erlaubt eine basale Sichtweise von Pädagogik, die eben davon ausgeht, dass Menschen nach denselben Gesetzmäßigkeiten “lernen”, egal ob sie jung oder alt, groß oder klein, InländerInnen oder AusländerInnen, behindert oder nicht behindert sind, einfach weil sie Menschen sind. Es bedarf natürlich unterschiedlicher Hilfestellungen (Individualisierung), um allen Menschen die möglichst optimalen Voraussetzungen zum “Lernen” zu schaffen. Dies ist aber immer ein kooperativer Prozess, wo es immer des “Anderen” bedarf, um sich selbst weiter zu entwickeln. “Der Mensch wird am Du zum Ich.” (Martin BUBER) oder in Umkehrung: “Er wird zu dem Ich, dessen Du wir ihm sind.” (Georg FEUSER)
Status quo
Das Projekt läuft seit dem Schuljahr 1996/97, ist also im siebenten Jahr seines Bestehens. Im Schuljahr 2002/03 gibt es in Wien 30 Integrationsklassen, in denen Kinder mit autistischer Wahrnehmung integrativ beschult werden. In 12 Klassen sind PraktikantInnen eingesetzt.
Um die Integration von Kindern mit autistischer Wahrnehmung qualitativ hochwertig durchführen zu können, wurde ein spezielles Aus- und Fortbildungsprogramm mit Georg FEUSER entwickelt und durchgeführt.
Weiters werden im Laufe des Schuljahres sogenannte “Auffrischungs”-Fortbildungen zu diversen Themen von uns angeboten sowie Zusammenkünfte zum Austausch organisiert.
Seit diesem Schuljahr haben wir auch ein “MentorInnen”-System aufgebaut. Als “Drehscheibe” der Vernetzung fungiert wiederum die Integrationsberatungsstelle des Stadtschulrates für Wien. Aufgabe der MentorInnen ist es, pädagogische Hilfestellung zu leisten, als Feedback- und ReflexionspartnerIn zur Verfügung zu stehen oder bei aufkommenden Problemen organisatorischer oder pädagogischer Art an der Lösung mitzuarbeiten.
Auspizien/Conclusio
Mittelfristig gilt es noch, die PraktikantInnen besser auf ihre Aufgabe vorzubereiten und ihnen ebenfalls die Grundlagen für einen professionellen Umgang mit Menschen mit autistischer Wahrnehmung zu vermitteln. Auch der Aufbau eines “Netzwerkes” aller Beteiligten auf der Basis eines Internetforums wurde bereits angedacht und wäre ein meiner Meinung nach sehr brauchbares Medium der Kommunikation.
“Für jedes Kind ein Platz im Regelkindergarten und eine Schule für alle !”
Längerfristig zeigt die Integration von Kindern mit autistischer Wahrnehmung als “Extrembeispiel” die Möglichkeit, ja sogar Notwendigkeit einer Schulentwicklung auf, die auf einer “Inclusiven Pädagogik” und auf einer entwicklungslogischen Didaktik, wie sie Georg FEUSER entworfen hat, basiert, wenn eine Gesellschaft von sich behaupten möchte, sie sei human und demokratisch. Denn im Sinne der in der Präambel anskizzierten Gedanken und des Menschenbildes gilt: “Egal wie ein Kind beschaffen ist, es hat das Recht, alles Wichtige über diese Welt zu erfahren, weil es in dieser Welt lebt.” (Georg FEUSER)
Zum Autor:
Rainer GRUBICH: seit 1986 Volksschullehrer in Wien; seit 11 Jahren als Klassenlehrer in einer Integrationsklasse tätig, davon 4 Jahre mit einem Kind mit autistischer Wahrnehmung; Ko-Leiter und Referent der Ausbildung für KollegInnen in Klassen mit Kindern mit autistischer Wahrnehmung; Mentor im Modell der praxisbegleitenden Betreuung; Beiträge im “Integrationsjournal” des Stadtschulrates für Wien 2/01 und1/02 sowie in “Integration in der Praxis”, Heft 9/ April 1998, Zentrum für Schulentwicklung, Klagenfurt.
[1] Veröffentlichungsquelle: Feyerer, E. & Prammer, W. (Hrsg.): Qual-I-tät und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Oberösterreich, Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 2004, ISBN 3-85487-570-3, 465 Seiten.