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VertretungsNetz: Behördliche Praxis belastet viele Betroffene und ihre Familien massiv – finanziell und emotional

Volljährige Menschen, die aufgrund einer intellektuellen Beeinträchtigung oder psychischen Erkrankung ihren Lebensbedarf nicht selbst absichern können, sind meist auf Sozialhilfe angewiesen. Sozialbehörden können jedoch Antragsteller:innen zwingen, finanziellen Unterhalt bei ihren Eltern gerichtlich einzufordern – auch, wenn die Menschen längst volljährig sind und sogar, wenn ihre Eltern schon in Pension oder selbst pflegebedürftig sind.

Wenn man sich weigert, Unterhaltsansprüche geltend zu machen, kann die Sozialhilfeleistung empfindlich gekürzt werden, in den meisten Fällen um mehrere 100 Euro. Uns sind sogar Fälle bekannt, wo die Behörde die Sozialhilfe zur Gänze streicht, und mit einer ‚Verletzung der Mitwirkungspflichten‘ begründet“,

kritisiert Norbert Krammer, Bereichsleiter Erwachsenenvertretung und Experte für Armutsthemen bei VertretungsNetz.

Herr A. ist 32 Jahre alt und wird aufgrund einer intellektuellen Beeinträchtigung und einer Suchterkrankung als arbeitsunfähig eingestuft. Er lebt in einem Sozialzentrum, das eigentlich für alte Menschen gedacht ist und ist dort sehr unglücklich. Seit Jahren wünscht er sich sehnlichst, in einer eigenen Wohnung zu leben. Das ist jedoch mit seinem Einkommen nicht machbar. 363 Euro werden ihm von der Sozialhilfeleistung abgezogen, weil Herr A. den Unterhaltsanspruch gegen seinen Vater nicht gerichtlich durchsetzen will. Der Vater lebt von einer Invaliditätspension, Herr A. möchte ihn nicht zusätzlich finanziell belasten.

Armutsbetroffen – ein Leben lang?

Erwachsene Menschen mit Behinderungen ihr Leben lang als Kinder zu behandeln und sozial nicht abzusichern, ist nicht nur beschämend, sondern widerspricht klar der UN-Behindertenrechtskonvention. Überdies wird von Eltern verlangt, lebenslang als Lückenbüßer für den Sozialstaat einzuspringen. Sogar wenn das Verhältnis zerrüttet ist und man seit Jahrzehnten keinen Kontakt zu den Eltern hat, zwingen manche Sozialbehörden die Betroffenen, Unterhaltsansprüche gerichtlich einzufordern“,

kritisiert Krammer.

Herr B. ist mit 18 Jahren ungeplant Vater geworden und hatte nie Kontakt zu seinem Sohn, der aufgrund einer intellektuellen Beeinträchtigung nicht selbsterhaltungsfähig wurde. Herr B. zahlt seit 44 Jahren monatlich Unterhalt für seinen Sohn, nun hat das Gericht den Betrag von 220 Euro auf 486 Euro erhöht – für den ehemaligen Bauarbeiter, der seit kurzem in Pension ist, eine sehr große finanzielle Belastung.

In vielen Fällen leiden auch Familienbeziehungen durch das Gerichtsverfahren: So z.B. bei der 37-jährigen Frau C. Drei ihrer vier Kinder leben im gleichen Haushalt. Die Eltern von Fr. C. unterstützten sie bislang in der Kinderbetreuung, weil Frau C. eine psychische Erkrankung und Lernschwierigkeiten hat. Obwohl der Vater von Frau C. als früherer Schwerarbeiter im vorzeitigen Ruhestand und körperlich schwer beeinträchtigt ist, musste Frau C. den Unterhalt unter Androhung der Einstellung von Sozialhilfe sogar gerichtlich geltend machen. Als Konsequenz daraus haben die Eltern von Frau C. den Kontakt zu ihr mehr oder weniger abgebrochen. Die Behörde hat einen Keil zwischen die Familienmitglieder getrieben.

Besonders für Kopfschütteln sorgt das Vorgehen des Sozialamtes beim Antrag von Herrn D. Der 23-Jährige ist an paranoider Schizophrenie erkrankt. Nach einem langen Psychiatrie-Aufenthalt hat er sich stabilisiert und lebt in einem Übergangswohnheim. Doch die finanzielle Absicherung war in Gefahr, die Erwachsenenvertreterin musste Unterhalt bei den Eltern von Herrn D. geltend machen. Beide Eltern sind selbständig tätig. Weil es bei den Unterlagen zum Einkommen Unklarheiten gab, beauftragte das Gericht einen externen Gutachter, das Einkommen und damit die Höhe des Unterhalts festzusetzen. Hätte Herr D. Ersparnisse, müsste er sogar das Honorar für den Gutachter bezahlen, damit die Eltern Kindesunterhalt zur Reduktion der Sozialhilfe bezahlen können.

Sozialhilfe und Unterhalt endlich reformieren!

Bei VertretungsNetz sind noch viele weitere Fälle bekannt, wo Sozialbehörden auf diese Weise auf dem Rücken von armutsbetroffenen Menschen Geld sparen. „Die gesetzliche Unterhaltspflicht von Eltern endet mit der Selbsterhaltungsfähigkeit des Kindes, also in der Regel nach Schul- und Ausbildungsabschluss bzw. bei Berufstätigkeit. Es gibt keinen vernünftigen Grund, warum Eltern von Kindern mit Behinderungen lebenslang in der Pflicht bleiben, Unterhalt leisten zu müssen“, stellt Krammer fest.

Eine Änderung der entsprechenden Bestimmung zum Unterhalt im Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuch (ABGB) könnte dem sofort ein Ende setzen und ist seit Jahren von der Bundesregierung zugesagt. Sie sollte Teil einer umfangreichen Unterhaltsreform sein, die jedoch leider ins Stocken geraten ist. Auch eine Änderung des Sozialhilfe-Grundsatzgesetzes könnte Abhilfe schaffen, wenn der „Kindesunterhalt“ bei Menschen mit Behinderungen z.B. mit dem 25. Lebensjahr begrenzt würde.