(von Ohrenkuss … da rein, da raus, D-Bonn, http://www.ohrenkuss.de/)
Es ist die klassische Ohrenkuss-Bewegung: Der Daumen der linken Faust zeigt zum linken Ohr hin, und der rechte Daumen führt vom rechten Ohr weg. Das bedeutet: Vieles was man hört, geht in den Kopf hinein, und das Meiste geht auch wieder heraus. Nur das wirklich Wichtige bleibt im Kopf – und das ist dann ein Ohrenkuss.
Wie das Magazin “Ohrenkuss … da rein, da raus” zu seinem ungewöhnlichen Namen kam, ist in der Bonner Redaktion schon längst eine kleine Legende. Es geschah 1998 während. einer Redaktionssitzung für das erste Heft. Die Redaktionsmitglieder hatten sich in einem Café; getroffen, viele Namen wurden ausgetauscht, es ging hoch her. Plötzlich dreht sich ein Redaktionsmitglied zu Projektleiterin Katja de Bragança und drückt ihr einen dicken Kuss auf ihr linkes Ohr. Alle lachen spontan auf, rufen “Ohrenkuss!” – und prompt war der Name geboren
Die Idee für das Magazin ist noch viel älter. 1987 lauscht die Humangenetikerin Katja de Bragança in Madrid auf einer Tagung einem interessanten Vortrag. Thema: “Lesen und Schreiben. Lernen bei Kindern mit Down-Syndrom”. Die Rednerin legt eine Overheadfolie auf. Anstatt dem Vortrag weiter zu folgen, liest de Bragança den Text auf der Folie: die Geschichte von Robin Hood, geschrieben von einem Jungen mit Down-Syndrom. Sie ist spontan begeistert, besonders von dem witzigen Schreibstil des ihr unbekannten Autors.
Sie erinnerte sich an die Zeit ihrer Diplom- und Doktorarbeit am Bonner Institut für Humangenetik, in der sie viele Menschen mit Down-Syndrom kennen gelernt hatte, darunter zahlreiche Jugendliche und Erwachsene. Während der Gespräche mit den Familien und Betreuern kam es oft vor, dass ihr jemand (immer sehr stolz) Geschriebenes zeigte: Schulhefte, Postkarten, Briefe oder Geschichten, verfasst von Personen mit Down-Syndrom. “Ich kann mich noch erinnern, dass mich der erste Text – eine Postkarte – sehr faszinierte”, erzählt de Bragança. Eine Faszination allerdings, die nicht von allen ihren Kollegen geteilt wurde. “Das ist eine Ausnahme”, urteilte ein Mitarbeiter. In ihrer Ausbildung hatten die Humangenetiker gelernt, dass es zu den Menschen mit einer Trisomie 21 gehört, dass sie eben nicht lesen – geschweige denn schreiben – können. “Wahrscheinlich haben die Leute die Texte einfach abgeschrieben”, glaubten de Braganças Kollegen.
Geboren als ein wissenschaftliches Forschungsprojekt
Dieses (Vor-)Urteil wollte de Bragança nicht einfach so stehen lassen. Und sie bekam auch die Gelegenheit, ihren Kollegen das Gegenteil zu beweisen. 1998 erhielt das medizinhistorische Institut in Bonn den Zuschlag der Volkswagen-Stiftung für ein Forschungsvorhaben. Thema: “Wie erleben Menschen mit Down-Syndrom die Welt, wie sieht die Welt Menschen mit Down-Syndrom – eine Gegenüberstellung”. Katja de Bragança leitete das Projekt. Ziel war zu zeigen, dass Menschen mit Down-Syndrom aufgrund ihres besonderen Aussehens, ihrer geistigen Behinderung und weil man ihre Behinderung bereits vor der Geburt erkennen kann, eine Sonderposition in der Gesellschaft haben. Menschen mit Down-Syndrom haben und leben eine eigene, andere Realität. Das Projekt sollte diese Realität zeigen. De Bragança erinnerte sich wieder an die selbst geschriebenen Geschichten, die ihr so gut gefallen hatten. Schnell war klar: Eine eigene Zeitung, geschrieben von Menschen mit Down-Syndrom, musste her, und dieses Projekt war der ideale Rahmen dafür.
Es fing klein an. Das erste Redaktionsteam bildeten vier Menschen mit Down-Syndrom – schnell aber wurden es mehr; die eigene Arbeit begeisterte, und die Begeisterung war so ehrlich wie ansteckend. Für das Projekt waren ursprünglich nur vier Ausgaben geplant, in halbjährlichem Abstand. Was danach mit der Redaktion und dem Heft geschehen sollte, hatten die Forscher zunächst nicht bedacht. Die Redakteure nämlich wollten unbedingt weitermachen. Ohrenkuss, das war schon nach vier Ausgaben weit mehr als ein wissenschaftliches Forschungsprojekt.
Ohrenkuss findet viele Förderer
Der Erfolg der Zeitung und der Spaß bei der Produktion jeder Ausgabe sorgte dafür, dass die Arbeit fortgesetzt werden konnte. Viele Unterstützer hat Ohrenkuss inzwischen gefunden. Die fünfte Ausgabe – zum Thema “Arbeit” – ermöglichte der Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft. Die Volkswagen-Stiftung förderte das Magazin für die Expo 2000, Preise wie die Auszeichnung im Wettbewerb “Demokratie leben” durch Bundestagspräsident Wolfgang Thierse sorgten für größere Bekanntheit und weitere Förderer.
Heute ist es für die Redakteure von Ohrenkuss ein großer Ansporn, demnächst ganz ohne fremde finanzielle Unterstützung arbeiten zu können. Sie wollen ihr Magazin ausschließlich durch Abonnenten finanzieren. Abonnenten, die Ohrenkuss lesen, weil sie von dem Magazin mindestens genauso begeistert sind wie die Autoren selbst. Denn das ist für die Ohrenkuss-Redaktion die größte Belohnung: Dass man ihr Magazin liest, weil man Spaß an ihren Texten hat, und dass man für diesen Spaß auch gerne das entsprechende Geld bezahlt.
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