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Silke Haider nimmt persönliche Erlebnisse und gesellschaftliche Strömungen auf, wandelt sie und will so Perspektiven verändern sowie die Welt mitgestalten. 1987 mit spastischer Diplegie und Handataxie geboren, erlebte sie 1993 erste gesellschaftliche Grenzen. Diese Grenzen sind ein Grund, warum sie heute ein so außergewöhnlicher Mensch ist.

Integrative Beschulung – Schatten- und Sonnenseiten

Silke Haider war 1993 eines von sechs Kindern in einem Schulversuch für eine Integrationsklasse. Da man schulisch nicht zwischen Menschen mit kognitiver und körperlicher Beeinträchtigung differenzierte, wurde sie anfangs nach dem Lehrplan der Allgemeinen Sonderschule (ASO-Lehrplan) unterrichtet. Das änderte sich erst ab der vierten Klasse Volksschule, ab wo sie vorwiegend nach dem Regelschullehrplan unterrichtet wurde. Die Mathematikschulung verlief dennoch lange im ASO-Lehrplan, denn Silke hatte ihre dreidimensionale Wahrnehmung aufgrund ihrer Beeinträchtigung später als andere Kinder entwickelt.

Schattenseiten einer integrativen Beschulung

In der Pflichtschule war Silke lange Zeit eine Außenseiterin. Die SchülerInnen waren nie über Silkes Behinderung aufgeklärt worden und fanden es degoutant, wenn Silke sich beim Gehen an den Tischen abstützte. Dass sie sich an den Tischen abstützte, weil sie eine spastische Diplegie hat, blieb unerklärt.
Die HauptschülerInnen trafen sich bei Partys und erzählten einander darüber, gern direkt neben Silke. Einige wenige versuchten die junge Frau zu unterstützen und wurden schnell selbst zu Außenseitern. So hielten sie es so in der Regel nicht lange an Silkes Seite durch.
Verschiedene Dinge geschahen oder wurden ausgesprochen, doch das Lehrpersonal schwieg.
Heute sagt man dazu: Mobbing, seelische Gewalt.
Hatten die LehrerInnen nicht bemerkt, was da vor sich ging?
Wussten sie nicht, wie sie mit der Beeinträchtigung einer Schülerin umgehen sollten?
Kann sein. Mag sein. Weiß man nicht.
Je länger ich über jene Dinge nachdenke, über die Silke mir berichtet, desto grausamer erscheint mir das Denken und Verhalten (Anmerkung der Autorin).
Für Silke hat die fehlende Unterstützung durch das Lehrpersonal auch mit persönlichen Gründen zu tun. Silke war nämlich während ihrer Hauptschulzeit stets von ihrer Mutter bis in die Schulgarderobe begleitet worden. LehrerInnen fanden, dass so die selbstständige Entwicklung der Jugendlichen eingeschränkt oder verhindert wurde. Sie ließen dabei außer Acht, dass ein Grund für die elterliche Begleitung die damals noch notwendige Hilfe beim Auto oder An- und Ausziehen von Jacke und Schuhen war.
Ja, Silke war im Vergleich zu anderen Kindern unselbstständig. Ja, sie hat länger für ihre körperliche Entwicklung gebraucht und behinderungsbedingt erst mit sechs Jahren zu gehen gelernt.
Die Hauptschul-Garderobe befand sich im Erdgeschoß. Silkes Klasse befand sich während der gesamten Hauptschulzeit im ersten Obergeschoß. Gruppenräume im Erdgeschoß waren früher Klassenzimmer gewesen. Hätten diese mit ein wenig Interesse wieder in Klassenzimmer rückgeführt werden können? Silke berichtet, dass eine Rückgestaltung in Klassenzimmer kein interessantes Thema für Verantwortliche war.
Nichtsdestotrotz lernte Silke, arbeitete sich vom ASO-Lehrplan hoch in die dritte und schließlich in die zweite Leistungsgruppe und schloss die Hauptschule mit einem üblichen Noten- und Leistungsdurchschnitt ab.

Sonnenseiten einer integrativen Beschulung

Anschließend besuchte Silke die Handelsschule Perg. Dort, wo Integration nach dem Schulgesetz nicht mehr vorgesehen war, fand zum ersten Mal tatsächlich Integration in die Schule statt. Ihr Klassenvorstand klärte bereits am ersten Schultag die MitschülerInnen zu Silkes Behinderung auf und ermöglichte den SchulkollegInnen so einen völlig anderen Umgang mit Silke und ihrer Körperbeeinträchtigung. Der Lehrer machte von Anfang an klar, dass er sich bei möglichen Problemen wegen der integrativen Beschulung einmischen würde.
Auch Silkes Begleithund durfte in die Schule mit. Allfällige Allergien wurden mit den KlassekollegInnen geklärt. Silke war 12 als sie ihre Begleithündin Wendy bekam. Wendy, erzählt Silke, hat sehr zu ihrem gestärkten Selbstbewusstsein beigetragen. Menschen achteten nicht mehr nur auf die Rollstuhlfahrerin. Die Leute beachteten die schöne Golden Retriever Hündin und über Wendy wurden so „Brücken zu Silke gebaut“.
Nach wenigen Wochen in der Handelsschule stand die KlassensprecherInnen-Wahl an. Einige der neuen FreundInnen empfohlen Silke zu kandidieren. Obwohl sie sich keine Chancen ausrechnete und wenig in sich selbst vertraute, bewarb sie sich und gewann mit 80%-iger Zustimmung. Das zeigt, wie wichtig sie ihren KlassenkollegInnen geworden war und steigerte ihr Selbstvertrauen gewaltig.
Nach einiger Zeit stand der erste Skikurs an. Silke konnte nicht Ski fahren. Aus diesem Grund bemühte sich der Klassenvorstand um ein Alternativprogramm, das er auch MitschülerInnen anbot und Silke damit die Teilnahme an einer gemeinsamen Woche im Klassenverband ermöglichte.
Die volle schulische Integration einhergehend mit Unterstützung sowie Akzeptanz durch LehrerInnen und SchülerInnen machte Schule gehen plötzlich freudvoll und so beendete Silke die Handelsschule mit ausgezeichnetem Erfolg.
Die LehrerInnen in der Handelsschule, die Silkes Leistungsvermögen erkannten, meinten, dass Körperbehinderung kein Hindernis sein dürfe und rieten ihr sich schulisch weiterzubilden. Daher besuchte sie einen Aufbaulehrgang mit dem Ziel den Handelsschulabschluss zu machen. Die Idee einer Matura oder gar eines Studiums klang unausführbar, da Silke sich so etwas nach diversen Schulerlebnissen nach wie vor nicht zutraute. Erst im letzten Jahr des Aufbaulehrgangs entwickelte und konkretisierte sich der Wunsch zu studieren. Sie wollte Volksschullehrerin werden und musste erkennen, dass man in Österreich mit Körperbehinderung keine Volksschullehre machen darf. Schließlich entschied sie sich auf den Tipp einer anderen Rollstuhlfahrerin hin für ein wirtschaftspädagogisches Studium an der Johannes Kepler Universität Linz (JKU), weil es für Studierende mit Behinderung Unterstützung gäbe.

Studium und Gefühle beim Studium

Das Studium öffnete eine „neue Welt, in der ich nicht wirklich an Grenzen gestoßen bin“. Silke wurde und wird nicht auf den Rollstuhl, ihre Behinderung, reduziert, sondern von KollegInnen normal willkommen geheißen.
Silke glaubt, dass dieser vernünftige Umgang miteinander u.a. mit dem Alter und der Offenheit im Denken aller Beteiligten zu tun hat, vielleicht auch mit der fehlenden Beschränkung auf einen Klassenverbund, in den man sich einfinden muss und vielleicht, nur vielleicht, auch mit dem Bildungsgrad.
Als Autorin des Artikels möchte ich hinzufügen, dass seit Silke 1993 schulisch integriert worden war fast 2 Jahrzehnte Integrationsschule vergangen sind. Viele SchülerInnen wurden seither integrativ beschult. Eltern und Betroffene haben sich gegenüber Ausgrenzung aufgelehnt. Es hat sich sowohl schulisch als auch gesellschaftlich in vielen kleinen und großen Bereichen ein Wandel vollzogen. Integration in die Schule ist nach wie vor eine Herausforderung, wenn man anders ist. Das betrifft alle gesellschaftlichen Randgruppen. Mobbing wegen Behinderung, so wie Silke es erlebt hat, ist heute hoffentlich eine Geschichte, aus der man gelernt hat.

Was zuerst?

Für Silke waren es zunächst besonders organisatorische Dinge, die ihren Universitätsalltag bestimmten. Sie reiste plötzlich ohne elterliche Hilfe an die Bildungseinrichtung und musste sich organisieren lernen. Sollte sie zuerst die Tasche, dann den Rollstuhl, dann den Begleithund aus dem Auto holen oder lieber doch in anderer Reihenfolge?
Wie lange braucht man für die Anreise, den Autoausstieg und dann zum Hörsaal? Weil Silke pünktlich sein wollte und die Dauer anfangs schlecht einschätzen konnte, war sie oft eine Stunde zu früh da.

Fragen über Fragen

Sie suchte barrierefreie Wege zwischen den Gebäuden und in den Bauten. Wen kann man fragen, wenn man nicht weiter weiß? Wo bekommt man den Schlüssel für die Treppenlifte, die zu einigen Hörsälen führen? Wen fragt man, wenn der Treppenlift ausfällt? Wo ist das nächste rollstuhlgerechte WC?
Darf man 15 Minuten früher von der Lehrveranstaltung (= Kurs, Seminar an der Universität) weg gehen, damit man rechtzeitig zum nächsten Seminar kommt? Silke erzählt, dass die an der Universität üblichen 15 Minuten Pause zwischen den Kursen für viele Studierende mit Behinderung zu kurz sind. RollstuhlfahrerInnen, aber auch blinde oder sehbeeinträchtigte Studierende brauchen oft länger für die Wege von einem Hörsaal zum nächsten. Das trifft besonders dann zu, wenn die Hörsäle in verschiedenen Gebäuden sind, auch wenn die JKU eine Campus-Universität ist und alle Gebäude relativ nah beieinander stehen.
Darf man die LehrveranstaltungsleiterInnen um Hilfe bitten? Um welche Hilfe darf man bitten? Welche Rechte als Mensch mit Behinderung hat man beim Studieren? Eine hilfreiche Unterstützung für viele dieser Fragen bot das Team am Öffnet einen externen Link in einem neuen FensterInstitut Integriert Studieren.

„Vieles hat sich eingespielt“

Inzwischen ist Silke über 3 Jahre Studentin. „Vieles hat sich eingespielt.“ Heute ist Silke schneller als früher und was zuerst aus dem Auto soll, ist keine Frage mehr. Silke hat auch gelernt, dass sie nicht alles allein schaffen muss. Trotz Handataxie schrieb Silke im ersten Studienjahr alle Prüfungen selbst. Dann gestand sie sich ein, dass eine Hilfe für die Niederschrift bei schriftlichen Prüfungen doch hilfreich ist.

Man fällt auf

Wieso steht die Studentin im Rollstuhl zu Semesteranfang da draußen bei der Professorin oder beim Professor? Wieso redet sie so lange mit der Lehrveranstaltungsleitung? Was will sie? Wie kommt eine Rollstuhlfahrerin von A nach B? Wieso hat sie einen Hund mit, wenn Hunde im Hörsaal doch verboten sind?
Man fällt auf, meint Silke und muss das auch aushalten können. Außerdem bringt es späteren Studierenden mit Behinderung Vorteile, wenn schon jemand vor ihnen da war und Sensibilisierungsarbeit beim Lehrpersonal oder in der Verwaltung geleistet und manches erreicht hat.

„Dinge erreichen“. Perspektiven verändern.

Silke ist es wichtig, Perspektiven bei ihren Mitmenschen zu verändern. Sie zeigt, dass es einen anderen Lebensweg als den üblichen gibt, dass ein Mensch mit Behinderung studieren und andere Wege gehen kann. Silke weiß, dass es nach wie vor Aufholbedarf bei Information und Sensibilität bezüglich Behinderung in der Öffentlichkeit gibt. Deswegen ist sie – obwohl früher unpolitisch – seit dem zweiten Studienjahr politisch aktiv.
Silke meint, dass sie es früher für unmöglich gehalten hätte, auf einem Plakat zu sein, wichtige Aufgaben in einer politischen Initiative zu erfüllen oder neue Ideen und Blickwinkel in Sozialeinrichtungen einzubringen. Heute ist vieles anders. Sie hat erkannt, dass Politik ein „Sprachrohr“ ist und eine „Chance, die Gesellschaft zu gestalten und Dinge zu erreichen.“

Wünsche …

Silke hat auch schon einige Ideen für eine veränderte Welt. Einer davon betrifft den tertiären, sprich universitären Bildungssektor. „Man kann natürlich keinen Berg abgraben“, dennoch wünscht sich Silke, dass Studieren mit Behinderung und Barrierefreiheit selbstverständlicher werden.
Silke ist der Ansicht, dass die österreichische Behindertenpolitik am richtigen Weg ist. Trotzdem gibt es Beschränkungen beispielsweise in der Berufswahl. Blinde Menschen können kein Richteramt einnehmen, Menschen mit Körperbehinderung keine Volksschullehre. Diese Barrieren sollen weg.
Schließlich wünscht sie sich noch mehr Offenheit in Firmen. Die Menschen können sich vielleicht eine Chefin oder einen Chef im Rollstuhl vorstellen, weil sie oder er ja durch einen Unfall im Rollstuhl sitzen könnte. Ihrer Meinung nach können sich viele Menschen bis heute aber nicht vorstellen eine blinde Chefin oder einen blinden Chef zu haben. Die Gesellschaft ist noch nicht bereit dafür.
Diese und viele andere Wünsche sollen Wirklichkeit werden.
Wenn Sie noch mehr von Silke Haider erfahren möchten, dann besuchen Sie Öffnet einen externen Link in einem neuen FensterSilke Haiders Blog.
(von Kerstin Matausch, KI-I)