(Artikel aus der Zeitschrift Behinderte Heft 3/4/2006 – erschienen 09/2006; Kontakt: BEHINDERTe in Familie, Schule und Gesellschaft, Albertstraße 8, A-8010 Graz oder http://www.behindert.or.at )
Rendezvous mit den Vulkanen der Auvergne
(von Manfred W.K. Fischer)
Erloschene Feuerberge unter sanftem Grün
Im Westen der 150.000 Einwohner Stadt Clermont-Ferrand liegt die Bergkette der Chaine de Puys. Dies sind 80 erloschene Vulkane, die sich über 40 Kilometer von Norden nach Süden erstrecken. Immer wieder sah ich diese eindrucksvollen Gipfel in den Werbespots der Mineralwasserfirma Volvic, die nordöstlich von Clermont-Ferrand ihren Sitz hat. Und immer wieder dachte ich, dass musst du dir ansehen!
Im Juni dieses Jahres wurde dann nicht mehr nur “daran gedacht”, sondern “gehandelt”. An einem Mittwochabend ging die Reise zu den zirka 1100 km entfernten Vulkanen der Auvergne los. Die Auvergne liegt im französischen Zentralmassiv im Herzen Frankreichs. Das Zentralmassiv selbst bildete sich vor 350 Millionen Jahren. Der Vulkanismus in der Umgebung von Clermont-Ferrand begann vor fast 150.000 Jahren. Die letzten Eruptionen liegen etwa 6000 Jahre zurück.
Schwarze Kathedrale von Clermont-Ferrand
Fährt man auf der Autobahn nach Clermont-Ferrand hinein, deutet nichts auf den vulkanischen Ursprung der diese Stadt umgebenden Hügel und Berge hin. Man sieht verschieden hohe sanfte, begrünte Bergkuppen, die jenen unseres Alpenvorlandes gleichen. Weithin sichtbar erhebt sich im Stadtzentrum die hochgotische Kathedrale Notre-Dame-de-l`Assomption (Mariä Himmelfahrt). Auffällig an dieser Kirche ist ihre Schwärze, deretwegen sie schwarze Kathedrale genannt wird. Diese ist aus dem dunklen, porösen Lavagestein von Volvic erbaut und damit der erste augenfällige Hinweis auf den vulkanischen Untergrund auf den wir uns nun befinden.
Mit dem Bau der Kathedrale begann man 1248. Unter Leitung der beiden Baumeister Jean Deschamps (bis 1295) und Pierre de Cébazat konnte die Kirche im Wesentlichen im 14. Jahrhundert vollendet werden. Die beiden Turmspitzen und der Narthex
– über die ganze Breitseite reichender schmaler Vorraum – hinter dem Hauptportal wurden jedoch erst nach 1866 im Stil des 13. Jahrhunderts fertig gestellt.
Die Auvergne und Asterix
Nach der langen Anreise per Auto ist aber nun Ausruhen angesagt. Auf einem Campingplatz am Stadtrand mieten wir ein Mobile-Home für vier Personen. Dieses wird nun bezogen. Da ich – obwohl Rollifahrer – meine Beine geringfügig bewegen kann, entschieden wir uns für diese Art der Unterkunft. Die Lage des Campingplatzes ist fantastisch – er ist in Terrassenform angelegt und das Mobile-Home eingerahmt von Edelkastanienbäumen. Gleichzeitig erleben wir die Allgegenwart des überall herumliegenden schwarzen, braunen und roten Vulkangesteins. Unsere beiden Jungs genießen es, im Freien und nicht in einem Hotel zu sein. Auf der Holzterrasse sitzend lese ich noch etwas über die Geschichte der Auvergne. Ich erfahre, dass die Stadt Clermont im Römischen Reich als Augustonemetum erste Erwähnung fand. Sie war Verwaltungssitz der gallorömischen Civitas
der Arverner. Zuvor hatten die Arverner (keltischer Stamm) die Römer bei Gergovia (Ruinen südlich von Clermont) 52 v. Chr. geschlagen. Doch bereits zwei Jahre später mussten sich die Arverner unter ihrem Anführer Vercingetorix bei Alesia geschlagen geben. Das Arvernerland wurde römische Provinz. Am Hahnenplatz in Clermont ist deshalb Vercingetorix und seinem Kampf gegen die römischen Besatzer ein Denkmal gewidmet.
Zum Abschluss vertiefe ich mich in den mitgebrachten Band “Asterix und der Avernerschild” und frage mich, wo wohl Alesia liege? Denn von den Galliern (Kelten) in diesem Astrerix-Band kennt diesen unrühmlichen Ort der Niederlage keiner – der Satz “Alesia? Ich kenn` kein Alesia!” ist ein Stehsatz darin.
Blick über 80 vulkanische Kegel
Der höchste Berg der Chaine (Kette) de Puys ist mit 1465 Meter der Puy de Dome – acht Kilometer von Clermont entfernt. Seit 1926 führt eine Mautstraße auf diesen Berg, deren maximale Steigung 12% beträgt. Wir bezahlen Euro 4,50 (Auto plus vier Personen) und streben spannungsgeladen dem Gipfel entgegen. Bereits bei der Fahrt hinauf sehen wir jene Vulkankegel, die sich südlich des Puy de Dome befinden. Fantastisch ist dann der Ausblick vom Gipfel des Puy. In Richtung Norden sehen wir in viele Krater hinein. Alle sind grün bewachsen und machen einen friedlichen, verschlafenen Eindruck. Sie lassen die Gewalt der Lavamassen und Gasausbrüche der Vergangenheit nicht mehr erahnen. Dieser Gegensatz ist beeindruckend. Da sich an diesem Wochentag nur wenige Besucher auf den Puy de Dome verirrt haben, stört keinerlei Hektik den Anblick der Vulkankegel um uns. Wir können die Wirkung der beeindruckenden Landschaft vollauf genießen. Die Kuppe des Puy de Dome besteht aus Vulkanit, das ist Lava, das nach dem Austritt an der Erdoberfläche erstarrt. Das Gestein auf dem wir nun stehen, quoll beim letzten Ausbruch des Puy vor zirka 8000 Jahren an die Erdoberfläche. An der Kuppe entwickelte sich ein kleiner Krater. Genau dort befinden sich heute der Parkplatz und das Besucherzentrum. Neben einer Sendeanlage und einem Wetterobservatorium finden sich hier auch die Überreste eines römischen Merkurtempels, denn auch bei den Römern galt der ehemalige Feuerberg als heilig.
Berg als Versuchslabor
Mitte des 17. Jahrhunderts diente der Berg dem aus Clermont stammenden Wissenschaftler Blaise Pascal (1623-1662) als “Versuchslabor”. Um das Gewicht der Luft nachzuweisen, schickte er seinen Bruder Périer mit einem Quecksilberbarometer auf den Berg. Der Luftdruck veränderte je nach Höhenlage die eine Quecksilbersäule und so war nachgewiesen, dass auch die Luft ein Eigengewicht hatte. Im Fremdenführer kann man lesen, dass der Berg auch heute noch manchmal an ein Labor erinnert. Wandert man z.B. zu Fuß vom Puy de Dome zu den anderen Gipfeln der Chaine des Puys, solle man sich über Schwefelgeruch nicht zu sehr wundern. Ob der Puy de Dome also wirklich erloschen (a.D. = außer Dienst) ist, bleibt somit dahingestellt.
Rollifahrer am "Feuerberg a.D."
Menschen mit Mobilitätsbehinderung können immer – auch am Wochenende, wenn nur ein Shuttlebus bergwärts fährt – mit dem eigenen Auto auf den Puy de Dome fahren. Beim Besucherzenrum befinden sich mehrere Parkplätze für Menschen mit Behinderung. Die Gaststätte und der Souvenirladen sind leicht zugänglich, eine Behindertentoilette ist ebenfalls vorhanden. Bereits im Prospekt wird darauf hingewiesen. Man gelangt mit dem Rolli problemlos zu zwei Aussichtspunkten, die dem Besucher den Blick auf die umliegenden Vulkankegel ermöglichen. In Umsetzung ist derzeit ein Rundwanderweg um den Gipfel des Puy, der für Rollifahrer zu befahren sein wird ist.
Vulkanismus in Architektur gegossen – Vulcania
Nächste Station unserer Vulkantour war das vom österreichischen Architekten Hans Hollein entworfene Museum Vulcania – 15 Kilometer westlich von Clemont-Ferrand. Wir sahen den Vulkankegel des Museums bereits vom Puy de Dome aus eingebettet in die Landschaft. Vulcania ist für Hans Hollein “…ein aus Basalt gehauener, in den erkalteten Lavastrom eingemeißelter Ort, bei dem eine Gebäudestruktur nahezu fließend in eine Naturlandschaft übergeht.”
Nachdem wir unseren Wagen auf einem von zehn (!) Behindertenparkplätzen direkt vor dem Haupteingang abgestellt hatten, kamen wir die nächsten sieben Stunden aus dem Staunen nicht mehr heraus. Fasziniert betrachteten wir auf dem Weg über eine spiralförmige Rampe in die unter der Erde gelegenen Ausstellungsräume die Lavaschichten der verschiedenen Vulkanausbrüche aus den letzten 30.000 Jahren. Direkt unter der heutigen Erdschicht mit den Wurzeln der Bäume und Sträucher sehen wir die Ascheschicht des Ausbruches des Puy Chopine vor 9500 Jahren. Erdgeschichte wird so zum unmittelbaren Erlebnis. Auch weil uns das Grollen der Vulkane akustisch begleitet. Unten angelangt blicken wir durch den von Hollein gestalteten Vulkankegel wieder nach oben und sehen, wie dieser Licht nach unten leitet und verteilt.
Schauen, berühren, erleben
Durch das Museum begeben wir uns auf die Spuren des Vulkanismus auf der Erde und in unserem Sonnensystem. Für sehbeeinträchtige Besucher gibt es in der Eingangshalle ein Museumsmodell zum Begreifen, damit diese sich eine Vorstellung vom gesamten Ausstellungskomplex machen können. Begreifen, berühren und erleben stehen im Mittelpunkt der Wissensvermittlung. Modelle machen den Vulkanismus unmittelbar begreiflich. Diese sind für Rollifahrer unterfahrbar, sodass keine Sichtprobleme beim Betrachten bestehen. Ein 3D-Kino und eine Erdbebensimulation stellen weitere Attraktionen dar. Beim Erdbeben stimmen die Besucher selbst ab, wie stark das vorgetäuschte Beben sein soll. All diese Attraktionen sind für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zugänglich. Hätten wir an diesem Tag nicht die kompetente fachliche Führung einer Museumsmitarbeiterin gehabt, wäre es uns nicht gelungen, alle Highlights zu sehen – ein zweiter Besichtigungstag wäre notwendig geworden. Als das Museum um 18 Uhr seine Pforten schloss, hatten wir ein “Museum für Alle” (Kinder, Erwachsene, behinderte Menschen,…) erlebt – mit vielen Anreizen zum Wissen entdecken und ohne Barrieren.
Barrierefreiheit differenziert gesehen
Vulcania setzt nicht nur im Bereich der Museumsdidaktik Maßstäbe, sondern auch was umfassende Barrierefreiheit betrifft. Dies beginnt bei der Website, die bei den Infos für Menschen mit Behinderungen zwischen Personen mit Mobilitätsbeeinträchtigungen, Gehörbeeinträchtigungen/- losigkeit, Sehbeeinträchtigungen und solchen mit Lerndefiziten unterscheidet. Für Menschen mit Lerndefiziten gibt es am Infoschalter eigene Führer. Auch Führer in Braille liegen auf. Der Audio-Guide wurde für sehbeeinträchtigte UND gehörlose Menschen (sic!) konzipiert. D.h. man kann die vom Guide abgegebenen Infos hören UND gleichzeitig auf einem Display lesen. Menschen mit Rolli erleben alle Ausstellungsbereiche stufenlos. Gesonderte “Behindertentoiletten” gibt es nicht – weil in JEDEM WC eine Toilettenbox groß genug und so ausgestattet ist, dass sie auch von E-Rolli- Fahrern problemlos benützt werden kann. Der Besuch von Vulcania war eine Reise in die Vergangenheit und Zukunft zugleich. Wir erlebten dort den (hoffentlich) vergangenen Vulkanismus in der Auvergne und die Zukunft einer problemlosen, wirklich barrierefreien Zugänglichkeit von Kulturinstitutionen und von Informationen für ALLE Menschen.
Weitere Informationen: www.vulcania.com/en/index_en.html |www.auvergnetourisme.info/de/index2.php |
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Veranstaltungsreihe zum Bundesbehindertengleichstellungsgesetz
Behindertenpolitische Abende 2006 on Tour (März – Dezember) Termine und nähere Informationen finden Sie im Folder zum download (pdf) oder http://www.behindert.or.at.