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Im St. Elisabeth-Integrationszentrum in Arali (Georgien) finden zehn junge Menschen mit Behinderungen, wonach sie sich ihr Leben lang gesehnt haben: Respekt, Anerkennung und Freundschaften.

"Nika"

Nika hat keine Lust auf Fingerspiele. Sollen die anderen doch die ollen Verse vor sich hin brabbeln. Er macht jedenfalls nicht mit. „Das ist der Opa, das die Oma, das der Vater…“ Und so weiter. Bis zum Schluss: „Wir sind eine große Familie.“ Natürlich kennt er das alles und er fühlt sich im heilpädagogischen Zentrum ja auch zu Hause, sonst würde er nicht jedes Mal hierher-kommen. Nika weiß, welchen Finger er wann anfassen soll, schließlich ist er schon von Anfang an dabei, zwei Jahre also. Aber heute ist einfach nicht sein Tag. So etwas kommt vor und das wird hier auch akzeptiert. Während Maja, Giorgi und die anderen mit großer Hingabe im Stuhlkreis spielen, an ihren Fingern ziehen und vor Vergnügen quietschen, hängt er, dick eingepackt in einem roten Anorak, auf seinem Stuhl und starrt vor sich hin.
„Warum ziehst du die Jacke nicht aus, Nika?“ Die Frage haut ihn wie ein Donnerschlag aus seinen Tagträumen. Er zuckt zusammen und blickt sich irritiert um. Sein Mund verzieht sich zu einer schiefen Grimasse. Er kneift die Augenbrauen zusammen und presst ein paar unverständliche Worte heraus. „Die ist neu“, übersetzt Raki, sein Freund. „Hat er gestern erst bekommen.“ Und plötzlich verwandelt sich Nikas Gesicht in ein einziges, großes, zufriedenes Grinsen. Er ist stolz auf seine Jacke, die hat ihm die Mutter gestern geschenkt. Deshalb kann das Holz im Ofen auch noch so knistern und brennen: Heute bleibt die Jacke an!
Nokoloz Gigoschwili, genannt Nika, ist 20 Jahre alt und mehrfach behindert. Seit zwei Jahren besucht er das St. Elisabeth Integrationszentrum in Arali, einem Bergdorf im Kleinen Kaukasus. Von den zehn Jugendlichen, die freitags bis sonntags hierherkommen, hat er die stärksten Einschränkungen. Seine Mutter schwört, dass er gesund zur Welt gekommen sei. Und sie meint, dass sein Gehirn einwandfrei funktioniere. Eltern klammern sich häufig an Illusionen. Wahrscheinlich wurde er schon mit einigen Defekten geboren. Als er sieben Monate alt war, erkrankte Nika an einer Lungenentzündung, er wurde punktiert, bekam starkes Antibiotikum. Eine Niere versagte und als die Mutter sich entschloss, ihre eigene zu spenden, stellten sich die Angehörigen quer. Die Operation hätten sich die Kleinbauern sowieso nicht leisten können. Ihre Erträge decken gerade den täglichen Bedarf.
Nika hat diverse Krankheiten und Behinderungen, sowohl körperlich als auch geistig. Er steht unter Dauermedikation und sitzt im Rollstuhl. Therapien würden helfen, aber in Georgien gibt es kaum Fachpersonal. Auf dem Land ist die Lage hoffnungslos. Also blieb Nika bis zu seinem 18. Lebensjahr auf die Fürsorge der Mutter angewiesen, die neben Haus und Hof auch noch den gebrechlichen Schwiegervater pflegte, während ihr Mann ein paar Lari auf dem Bau verdiente. Immerhin versteckte die Familie Gigoschwili ihren Sohn nicht.

Kinder wurden vor der Außenwelt versteckt

„Wir waren schockiert, als wir die vielen behinderten Kinder entdeckten“, erinnert sich Eliso Rechwiaschwili. Die Leiterin des RHEA-Integrationszentrums in der Hauptstadt Tiflis erinnert sich noch genau an ihren ersten Besuch in der Region Samzche-Dschawachetien nahe der türkischen Grenze. „Wir kamen kurz nach dem Krieg gegen Russland hierher.“ Das war im August 2008. Der georgisch-orthodoxe Priester Joseph Gachava hatte Eliso Rechwiaschwili eingeladen. Er kannte ihr heilpädagogisches Tageszentrum in Tiflis, das seit 2006 mit jungen Menschen arbeitet und von Brot für die Welt unterstützt wird. In seiner Gemeinde wollte er etwas Ähnliches aufbauen. Sie gingen zusammen von Haus zu Haus und fanden immer mehr behinderte Kinder und Jugendliche, die zum Teil völlig verwahrlost in den eigenen vier Wänden vor sich hin vegetierten.

RHEA-Integrationszentrum betreibt ein zweites Zuhause und fördert persönliche Entwicklung

„Wir haben genau analysiert, wen wir aufnehmen können“, erklärt Eliso Rechwiaschwili vom RHEA-Integrationszentrum. Einige Jugendliche waren zu schwer behindert, andere lebten zu weit vom Dorfzentrum entfernt. Die lokale Verwaltung stellte Räume des Kindergartens zur Verfügung, die Kirche zahlte die Renovierungsarbeiten und der Verein RHEA übernahm Planung, Organisation und Ausbildung von Fachpersonal und Eltern. „Solch eine Zusammenarbeit ist in Georgien einmalig“, betont die Projektleiterin. Ein Jahr später eröffnete sie das einzige heilpädagogische Tageszentrum in der gesamten Region. Inzwischen hat der Landrat ein Jahresbudget von 10 000 Lari für die laufenden Kosten bewilligt, knapp 4500 Euro für Holz, Mittagessen, Behindertentransport, Benzin sowie die Gehälter der Köchin und der beiden angelernten Erzieherinnen. Die Fachkräfte von RHEA kommen regelmäßig ins Dorf zur Unterstützung und Fortbildung. So können sich zehn junge Menschen drei Tage pro Woche zum Lernen, Basteln und Spiele in Arali treffen.
Die Fingerübungen sind beendet. Die Jugendlichen haben sich begrüßt und über den heutigen Tag gesprochen. Nika ist wieder voll bei der Sache. Es ist November, draußen strahlt die Sonne auf bunt verfärbte Blätter. Die Jungen und Mädchen tuschen Herbstbilder. Später werden sie filzen, ein Theaterstück proben, singen, tanzen und Gedichte aufsagen. In der Mittagspause werden sie sich über die belegten Brote hermachen, denn viele Familien leben in extremer Armut und können ihre Kinder nicht ausreichend versorgen. Die beiden Erzieherinnen unterstützen sie bei allem, so gut sie können. Manana Tabatadse ist arbeitslose Ingenieurin, Eka Tschilingaraschwili Musiklehrerin. Bei RHEA haben sie therapeutische und heilpädagogische Fähigkeiten erworben. Die neue Aufgabe macht ihnen Spaß und bringt 120 Lari im Monat, rund 54 Euro. Das sind 40 Prozent eines Lehrergehalts.
Nika kritzelt als einziger mit Buntstiften. Der Umgang mit Wasserfarben überfordert ihn. „Ich kann nicht gut malen“, nuschelt er. „Doch“, entgegnet Manana Tabatadse. „Du machst das sehr gut!“ Nika hat in den vergangenen zwei Jahren wie alle Jugendlichen enorme Fortschritte erzielt. Er kann malen, mit der Schere schneiden, mit Wolle arbeiten und vor allem: ein paar Schritte gehen! Durch die motorischen Übungen im Zentrum kann er mit fremder Hilfe kurze Strecken überwinden. „Das ist für mich das größte Wunder“, sagt seine Mutter am Nachmittag. Für Tamriko Schwelidse war die Eröffnung des Zentrums 2009 ein Glückstag. „Damit begann ein neues Leben“, sagt sie und strahlt. „Es ist sein zweites Zuhause.“ Nie im Leben hätte sie gedacht, dass ihr Sohn jemals den Rollstuhl verlassen würde.
„Mit richtigen Therapeuten würden alle Jugendliche einen Riesensprung machen“, meint Eliso Rechwiaschwili. Nikas Freund Rati ist beispielsweise nur leicht behindert. Seit dem plötzlichen Tod seiner Mutter vor zwei Jahren ist der 14-Jährige jedoch verstört. Er hat den schweren Autounfall mit eigenen Augen gesehen. Bei regelmäßiger Psycho- und Ergotherapie könnte er später sicher einen qualifizierten Beruf ausüben. Für Fälle wie ihn würde Eliso Rechwiaschwili gerne eine Ausbildungswerkstatt für Holzbearbeitung und Öko-Landwirtschaft aufbauen. „Unsere jungen Leute brauchen Perspektiven“, sagt sie. Außerdem könnte das Projekt über den Verkauf der Produkte Geld erwirtschaften.
Die ursprüngliche Arabischlehrerin hat schon viel auf die Beine gestellt. Warum sollte ihr nicht auch diese Vision gelingen? Vorerst nimmt der Alltag im Zentrum jedoch seinen Lauf. Pünktlich um 16 Uhr hupt der Fahrer. Schluss für heute. Eka Tschilingaraschwili und Rati helfen Nika in den Jeep. Giorgi und Maja sitzen schon drin. Die anderen warten auf die nächste Runde. Sie wohnen in entgegengesetzter Richtung. Dafür sind sie morgen als erste wieder hier. Darauf freuen sie sich schon jetzt. „Bis morgen“, rufen sie und winken, bis der Jeep hinter der Kurve verschwunden ist.

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(von Constanze Bandowski in Zeitschrift "Behinderte Menschen" 4/5/2012)