Direkt zum Inhalt

Judyta Smykowski hat das Onlinemagazin „Die neue Norm“ gegründet. Es soll nicht nur Menschen mit Behinderung sichtbar machen – sondern das Thema endlich „raus aus der Charity-Ecke“ holen.

Judyta Smykowski möchte nicht nur ein gutes Beispiel, sie will ein Vorbild sein. Ein Vorbild dafür, wie Medien aussehen könnten, wenn sie tatsächlich inklusiv wären. Damit andere besser verstehen, wo sie voreingenommen sind, wo ihnen Wissen fehlt. Smykowski sehnt sich lange schon nach einer Berichterstattung ohne die gängigen Stereotype und nimmt es deshalb gleich selbst in die Hand. „Das, was wir machen, ist ‚Disability Mainstreaming’“, erklärt sie.

Wir, das ist die Redaktion des Onlinemagazins „Die Neue Norm“. Und „Disability Mainstreaming“, das ist die erklärte Absicht, für Menschen mit Behinderung endlich Gleichstellung zu schaffen, nach Jahren der guten Absichten. Mögliche Barrieren im Alltag sollten überall mitgedacht und Behinderungen nicht nur einmal im Jahr „gefeiert“ werden.

„Das Thema Behinderung in einen neuen Kontext setzen. Raus aus der Charity- und Wohlfahrtsecke, rein in […] die Mitte der Gesellschaft“ – so wird das in den Redaktionsstatuten formuliert. Für Smykowski ist das mehr oder weniger unfreiwillig zur Lebensaufgabe geworden. „Die Neue Norm“ ist ein Projekt der „Sozialhelden“, einem Verein, den der Autor und Inklusions-Aktivist Raúl Krauthausen gegründet hat. Die Initiative setzt Projekte rund um die Themen Teilhabe und Barrierefreiheit um.

„Die Neue Norm“ ist eines dieser Projekte. Smykowski arbeitet schon seit vier Jahren für die Sozialhelden. Heute leitet die 30-Jährige die Redaktion des Online-Magazins. Momentan seien sie zu dritt, erzählt sie. Externe Schreibende gebe es auch. „Die Neue Norm“ soll für alle Menschen lesenswert sein.

Zu selten gibt es Kontakt zwischen Menschen mit und ohne Behinderung

Auch, „wenn bei uns die Perspektive von Menschen mit Behinderung oft vertreten ist. Das ist ja unsere Idee, weil die anderswo so selten zu finden ist.“ Texte zu Arbeitsplätzen von Menschen mit Behinderung, zum „Americans with disabilities“-Act und Porträts von Menschen, die die Berliner Kulturlandschaft inklusiver machen wollen.

Mindestens zweimal in der Woche erscheint ein neuer Beitrag auf der Webseite, einmal im Monat produziert das Team im Auftrag des Bayrischen Rundfunks auch einen eigenen Podcast. „Die haben erkannt, dass das Thema Behinderung wieder mehr im Programm stattfinden muss“, sagt Redaktionsleiterin Smykowski. Wie damit in den meisten Medien umgegangen wird, ärgere sie.

„Menschen mit Behinderung haben in der Berichterstattung immer entweder die Helden- oder die Opferrolle“, sagt Smykowski. In beiden Fällen gebe es eine Abgrenzung von Menschen ohne Behinderung – und oft auch eine Konnotation von Leid. „Das stört viele Menschen mit Behinderung. Ob ich unter meiner Behinderung leide, das möchte ich schon selbst entscheiden, das soll nicht einfach so über mich geschrieben werden“ , sagt die Journalistin.

Für Judyta Smykowski sei es nicht die Behinderung, unter der sie leide. Vielmehr sind es die äußeren Umstände, die gesellschaftlichen Realitäten. „Ich leide, wenn der Fahrstuhl kaputt ist, wenn ich in der Redaktion nicht repräsentiert bin, wenn in Fernsehshows nie jemand mit Behinderung vertreten ist“, verdeutlicht die Journalistin. Vor allem in Boulevardmedien hätten die Porträts von Menschen mit Behinderung oft etwas Voyeuristisches.

„Es gibt immer diesen einen Menschen mit Behinderung, der es ‚geschafft‘ hat“, fasst Judyta Smykowski zusammen. „Die Menschen selbst sehen das meistens gar nicht so. Aber in der Berichterstattung gibt es diese Stimme von außen, die von einem Leid erzählt.“ Besonders ärgert sich die Journalistin über das Wörtchen „trotz“. Gerade in der Sportberichterstattung werde das häufig genutzt, sagt sie.

„Da schwingt dann diese Bewunderung mit – die Person hat das ‚trotz‘ ihrer Behinderung geschafft“, sagt sie. „Nein! Sie hat es mit ihrer Behinderung geschafft.“ Dabei gehe es im Journalismus doch eigentlich darum, ergänzt Smykowski, offen zu sein und Fragen zu stellen. Trotzdem merke sie häufig, dass Interviewende die Menschen in eine Richtung schieben wollten.

„Crip Time“ nennen viele Menschen mit Behinderung die Zeit, die sie aufwenden, um sich in einer Welt voller Barrieren zurechtzufinden

Sie wünsche sich, dass an solchen Stellen mehr nachgefragt und auf die Wortwahl geachtet würde. Smykowski erzählt all das nicht zum ersten Mal. Sie klingt ungeduldig. Schließlich ist es ihr Alltag, sich gegen die Stigmatisierung zu wehren. Auch, wenn sie sich das nicht rausgesucht hat. Wie es zu dem Schubladendenken kommt? „Menschen ohne Behinderung haben einfach wenig Kontakt zu Menschen mit Behinderung“, sagt Smykowski bloß und zuckt die Schultern.

Menschen mit Behinderung seien meistens für sich und ihre Anliegen noch nicht überall präsent. Sie gehen auf Förderschulen oder arbeiten in Behindertenwerkstätten. Knapp acht Prozent der Menschen in Deutschland haben eine Behinderung. „Aber das spiegeln die meisten Bekanntenkreise gar nicht.“ Und wer niemanden mit Behinderung in seinem Umfeld kennt, bekommt auch nicht mit, welche Benachteiligungen Menschen mit Behinderung im Alltag erfahren.

„Mit den Corona-Beschränkungen habe ich mich zum ersten Mal richtig gleichberechtigt gefühlt. Niemand konnte in einen Club gehen, niemand konnte in eine Bar, niemand konnte auf den Berliner Fernsehturm, wo ich erst recht nicht hin kann“, sagt Smykowski. Für sei die Zeit des Lockdowns krass gewesen. Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie gedacht: „Jetzt bin ich wie alle anderen – gleich.“ Dabei stimmt das rational gesehen gar nicht wirklich.

Weil Smykowski im Rollstuhl sitzt, hat sie ein geringeres Lungenvolumen als viele andere Menschen und zählt zur Risikogruppe. Als Rollstuhlfahrerin spürt sie die Benachteiligung im Alltag jedoch nochmal deutlicher. „Ich muss schon vorher viel mehr Zeit aufwenden, um herauszufinden, wo ich hinkomme. Gibt es eine Rampe, funktioniert der Fahrstuhl und komme ich mit dem Rollstuhl auch in den Zug?“ All das müsse sie recherchieren, eigentlich immer, wenn sie das Haus verlasse.

„Crip Time“ nennen viele Menschen mit Behinderung die Zeit, die sie aufwenden, um sich in einer Welt zurechtzufinden, in der Barrieren einfach nicht mitgedacht sind. „Privilegien zu erkennen, das können nur wenige“, so Smykowski. Sie merke immer wieder, wie schwer das vielen Menschen fällt.

Auch deshalb ist Judyta Smykowski die Frage danach, wie viele Menschen mit Behinderung es eigentlich gibt, leid. „Eigentlich spricht nichts dagegen, wenn wir durchzählen“, sagt sie. „Aber nicht mit dem Ziel, der Mehrheitsgesellschaft zu beweisen, dass wir nicht repräsentiert sind. Es ist doch absurd, dass die das nicht sehen.“

Judyta Smykowski wünscht sich mehr Solidarität und weniger Egoismus. Dass Menschen ihr einfach glauben, dass sie Benachteiligungen erlebt, ohne dafür Zahlen als Beweise zu brauchen. Und ohne diese Benachteiligung selbst nachfühlen zu müssen. „Es gibt ja auch Menschen im Journalismus, die Experimente machen, um zu ‚verstehen‘, wie das so ist mit Rollstuhl, und dann feststellen: Oh ja, das ist schon schwierig.“

Sie wünsche sich, dass Menschen im Rollstuhl zugehört werde, statt es selbst auszuprobieren. „Sich einzufühlen ist das eine, aber müssen andere denn nachempfinden, wie ich aufs Klo gehe oder wie ich einen Fahrstuhl benutze?“, so Smykowski. „Es ist nämlich eigentlich ganz einfach: Ich brauche einen Fahrstuhl. Punkt. Und die sind ständig kaputt. Oder vollgepisst.“

Zu oft werden Autorinnen und Autoren auf das Thema Behinderung reduziert

Dass Judyta Smykowski und alle anderen Menschen der „Neuen Norm“ immer noch dafür kämpfen müssen, gehört zu werden, ist Teil des Problems. Menschen mit Behinderung haben es im Journalismus schwer, auch über etwas anderes schreiben zu dürfen. „Wir werden immer wieder auf das Thema reduziert “, so Smykowski. Für sie ein Zwiespalt.

„Einerseits bin ich froh, dass wir in vielen jungen Medien wie ‚ze.tt‘ oder ‚Edition F‘, die sehr auf Vielfalt achten, die Stimme von Menschen mit Behinderung sein können. Aber genau das ist das Problem“, sagt Smykowski. Sie schreibe ganz bewusst über das Thema Behinderung, weil sie fürchte, sonst machten das noch weniger Menschen. „Aber ich wünsche mir für junge Menschen im Journalismus, dass sie das nicht mehr müssen. Dass sie einfach Wissenschaftsjournalistin sein können, mit Behinderung, und über den Mars schreiben.“

Ein Problem, das Menschen mit Behinderung mit anderen marginalisierten Gruppen teilen. „Du bist eigentlich auch nur eine Stimme von vielen, wirst aber in die Rolle gedrängt, für alle sprechen zu müssen“, sagt die Journalistin. Das bedeute eine krasse Verantwortung. Nicht nur, wenn sie Texte veröffentlicht. Auch in anderen Lebensbereichen.

Denn vor ihrer Arbeit bei den Sozialhelden sei sie in Praktika oft überhaupt die erste Mitarbeiterin mit Behinderung gewesen. Die Redaktionen hätten das auch offen kommuniziert und mit ihr besprochen, wie sich etwa Außeneinsätze mit Rollstuhl realisieren lassen. „Es ist ja schön, dass es diese Offenheit gibt, andererseits bin ich ja auch neu und muss auch gute Artikel schreiben, während ich mich mit der Architektur der Redaktion auseinandersetze“, sagt sie und hebt entschuldigend die Hände.

Deswegen sei der Satz „Du bist hier die erste“ immer auch eine Bürde: „Wenn ich nicht gut war, wer weiß, ob sie dann jemals wieder jemanden mit Behinderung einstellen.“ All das, sagt Smykowski, lauge aus. Diese Aufgabe, das Selbstverständliche immer wieder erklären zu müssen: dass sie ein Teil der Gesellschaft ist und die gleichen Rechte hat wie alle anderen. Sich wehren zu müssen, wenn in Gesetzesvorschlägen, Bauplänen oder bei Veranstaltungen Menschen mit Behinderung wieder nicht mitgedacht, sondern ignoriert werden.

Judyta Smykowski wünscht sich eine Quote – zumindest in der Politik

Für Judyta Smykowski ist das eine anstrengende Doppelrolle: Einerseits muss sie die Benachteiligungen ertragen, andererseits die Kraft aufbringen, sich zu wehren und für die eigenen Rechte zu kämpfen. Einfach, weil es sonst niemand tut. „Sicher ist das mein Beruf, dafür bekomme ich Geld“, sagt sie. „Gleichzeitig habe ich auch keinen Feierabend von der Behinderung, von den Barrieren, von den Forderungen.“

Das Aktivistinnendasein zehrt an ihren Kräften. „Es ist wichtig, nicht in den Meckermodus zu verfallen und auch Veränderungen zu sehen. Wenn ich dauernd daran denke, wo wir noch kämpfen müssen, verliere ich die Motivation“, sagt sie. Zu tun gebe es trotzdem noch genug. Judyta Smykowski wünscht sich etwa eine Quote für Menschen mit Behinderung – mindestens in der Politik.

„Eigentlich“, erklärt sie, „wäre es ja schon ein Anfang, zu sagen: Okay, wir haben euch auf dem Schirm. Vielleicht wissen wir noch nicht, wie wir es umsetzen können, inklusiver zu werden, aber wir sind bereit, zu lernen.“ Und es brauche mehr Mut, gerade in der Medienbranche. „Warum können Menschen mit Behinderung nicht auch einfach mal Werbung für Apfelsaft machen“, sagt Judyta Smykowski. „Einfach, weil sie ein Teil unserer Gesellschaft sind.“

Quelle; www.fr.de