Die US-amerikanische Aktivistin Trista McGovern ist behindert. Und sie ist eine queere Fotografin, die ihre Sexualität öffentlich thematisiert. Damit bricht sie Tabus und zeigt: Menschen mit Behinderung kämpfen nicht nur für Grundrechte wie den Zugang zu Wahlen und einer Krankenversicherung, sondern auch um ihre Identität als mündige, diverse Erwachsene.
Schwarze Schnüre und nur wenig Stoff bedecken ihre Haut, ein Tattoo in Form einer Lotusblüte ziert ihren linken Oberschenkel. Aus ihrer Nase führt ein Schlauch, ihr Rücken ist vernarbt und nach links verwachsen. Ihr Gesicht mit den großen Augen liegt auf ihrer linken Schulter, beinahe auf ihrer Brust. Sie schmiegt sich an eine Frau, an einen Mann – ein sinnlicher Kampf gegen Vorurteile, Tabus und Diskriminierung.
Trista McGovern ist Fotografin, Autorin, Model und Aktivistin. Ihre Arbeiten zeigen ihre Faszination für den menschlichen Körper. Dass sich die 27-Jährige selbst so vor der Kamera zeigt, hatte sie nicht geplant. „Mir hat mal jemand gesagt, dass es vielleicht anderen Leuten helfen könnte, mich als behinderte Person so zu sehen und ich dachte mir ‚ok cool, ich mach’s‘“. Daraufhin folgten zwei Foto-Strecken mit der Fotografin Emma Wondra. Die erste zeigt Trista McGovern mit einem Mann. „Ich habe das Co-Model so ausgesucht, dass es die Leute am meisten schockieren würde: eine behinderte Person mit einem weißen, konventionell attraktiven, körperlich gesunden Cis-Mann.“ Bei dem zweiten Shooting zeigt sich die Aktivistin mit einer Frau. „Das erste Ziel war es, zu zeigen: behinderte Menschen sind sexuell. Und zweitens: Wir sind auch queer!“
Hinter Trista McGoverns Körperpositivität und dem Aktionismus der bisexuellen Frau steckt eine tiefe, auch schmerzhafte Auseinandersetzung mit sich selbst und mit der strukturellen Diskriminierung von Menschen mit Behinderung. Der Begriff Ableismus (engl. able = fähig) beschreibt die Diskriminierung, die Betroffene auf ihre Beeinträchtigung reduziert. Wie auch bei anderen Konzepten gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit (wie Rassismus oder Sexismus) ist Ableismus tief in der Gesellschaft verankert: individuell und institutionalisiert. Wer von der normativen Vorstellung, was Menschen können und leisten müssen, abweicht, wird als minderwertig, als nicht vollwertiges Individuum wahrgenommen.
Diskriminierungsfreie Sprache
Die Bezeichnung „Menschen mit Behinderung“ und „behinderte Menschen“ sehen viele Menschen mit Behinderung als neutrale Beschreibung eines Merkmals. Auch Trista McGovern bezeichnet sich so. Wenn hingegen „Behinderte” alleine, also ohne einen Zusatz wie „Menschen“, gebraucht wird, entsteht das Bild einer festen Gruppe und die Personen werden auf dieses Merkmal reduziert.
In diesem Text wird „Schwarz“ großgeschrieben, um zu verdeutlichen, dass es sich dabei weder um die Hautfarbe noch biologische Eigenschaften handelt, sondern um eine politisch gewählte Selbstbezeichnung von Menschen, die durch Rassismus-Erfahrungen verbunden sind. Indem „weiß“ klein und kursiv geschrieben wird, soll dies wiederum hervorheben, dass es sich um eine Konstruktion und Privilegien handelt, nicht um eine tatsächliche Hautfarbe.
Behinderung betrifft eine Milliarde Menschen weltweit
Das Problem einer kleinen Minderheit? Tatsächlich sind behinderte Menschen mit einer Zahl von einer Milliarde die größte Minderheit der Welt. Dazu zählen unterschiedliche Formen von Behinderung, unter anderem körperliche, geistige, Sinnes- oder Sprachbehinderung. 25 Prozent der Menschen in den USA haben eine Behinderung, auch hier stellen sie die größte Minderheit dar. Am 26. Juli feierte der Americans with Disabilities Act (ADA) seinen 30. Geburtstag. Das Gesetz untersagt die Diskriminierung von Individuen mit einer Behinderung, mit dem Ziel, dass diese Menschen dieselben Rechte haben wie alle anderen.
Auch wenn das Gesetz ADA eine Grundlage bietet, um Rechte und Unterstützung einzufordern, sind die Gesundheitssysteme überlastet. „Es gibt zu viele Menschen, die komplett aus dem System fallen“, so Hugo Dwyer, Geschäftsführer der Hilfsorganisation A Voice Of Reason (VOR), „die Wartelisten sind in vielen Bundesstaaten zu lang”. Die Zahl der in Armut Lebenden ist bei behinderten Menschen laut einer Studie der University von New Hampshire aus dem Jahr 2019 mehr als doppelt so hoch wie bei dem Rest der Bevölkerung, mehr als 60 Prozent der Betroffenen sind arbeitslos. Eine Studie des Government Accountability Office (GAO) aus dem Jahr 2017 zeigt, dass bei der vergangenen Präsidentschaftswahl 60 Prozent der Wahllokale nicht barrierefrei erreicht werden konnten. Bei politischen Entscheidungen kommen der Absicherung und Pflege von Menschen mit Behinderung nur wenig Aufmerksamkeit zuteil. Dies sei kein neuer Trend, die Trump-Regierung folge ihm jedoch kontinuierlich, sagt Shannon McCracken, Vizepräsidentin der Organisation American Network of Community Options and Resources (ANCOR). „Es ist wie eine Warteschleife. Keine Veränderung, außer der Entschluss, die Finanzierung für das Gesundheitsfürsorgeprogramm Medicaid zu kürzen“, sagt Hugo Dwyer. Medicaid ist eine staatliche Krankenversicherung für behinderte oder ältere Menschen, Schwangere und Menschen mit Kindern, die Medikamentenkosten, Arzt- und Krankenhausbesuche abdeckt. Besonders Menschen mit einer geistigen oder Lernbehinderung brauchen professionelle und zuverlässige Fachkräfte, damit sie in die Gemeinschaft integriert werden können und nicht in institutionalisierter Isolation leben. „Die größte Herausforderung für uns ist der Fachkräftemangel. Es gibt keine beruflichen Perspektiven und die Gehälter sind niedrig. Das führt zu einer hohen Fluktuationsrate”, schildert Shannon McCracken das Problem.
Auch Aktivistin Trista McGovern sagt: „Ich mache mir Sorgen darüber, dass die Trump-Regierung die Finanzierung für Sozialversicherungsprogramme weiterhin kürzen wird und dass es schwieriger werden wird, die Absicherung zu bekommen, wenn ich sie in Zukunft wieder brauche.“ Sie lebt in Minneapolis und hat mehrere Jobs parallel. Damit verdiene sie gerade genug, sodass sie aktuell keinen Anspruch auf die staatlichen Gelder habe, die Menschen mit Behinderung in den USA zustehen, sagt sie. Sie arbeitet Teilzeit im Homeoffice in der Verwaltung einer Non-Profit-Organisation. Die Corona-Pandemie mache es ihr nun aber fast unmöglich, ihrer Arbeit als freiberufliche Fotografin nachzugehen. „Meine einzige Möglichkeit ist es, das Virus zu 100 Prozent zu vermeiden und das wird zurzeit immer schwieriger.“ Neben einer spinalen Muskelatrophie, die für ihre Deformationen verantwortlich ist, leidet sie unter einem chronischen Lungenversagen.
Social Media als Plattformen für mehr Sichtbarkeit
Behinderung betrifft früher oder später jeden – direkt oder in der Familie. In den USA gelten 40 Prozent der Menschen über 65 Jahre als behindert. Jeden Tag kann ein Unfall zu einer permanenten Verletzung oder einer Lähmung führen. „Es ist die einzige Minderheit, der jeder Mensch zu jeder Zeit angehören kann“, sagt Trista McGovern, „und das macht den Leuten Angst“. Warum Ableismus ein nicht viel breiter diskutiertes Thema ist, sieht sie außerdem in der fehlenden Gemeinschaft begründet. „Als ich aufgewachsen bin, hatte ich keine behinderten Freund*innen. Natürlich bekommt das Thema keine Aufmerksamkeit, weil man niemanden hat, mit dem man sich austauschen kann.“ Mit Social Media sind in den vergangenen Jahren Plattformen entstanden, die eine Chance für Vernetzung bieten. Als Trista McGovern die Fotos und Text-Essays über Ableismus, Sexualität und Behinderung teilte, gab es viele Reaktionen. Die Rückmeldungen, die sie am meisten bewegt haben, kamen von Menschen mit Behinderung, die sich verstanden und gehört fühlten: „Ich lese deine Worte immer wieder. Ich kann gar nicht beschreiben, wie dankbar ich bin, dass du es ausgesprochen hast.” Besonders wichtig seien für Trista McGovern die Kommentare von Leuten, die ihr sagten, dass sie noch nie von Themen wie Ableismus, Sexualität oder Queerness bei behinderten Menschen gehört oder über sie nachgedacht haben. „Die Tatsache, dass so viele Leute sagen, es sei nicht auf ihrem Radar oder dass sie geweint haben, als sie die Bilder gesehen und meine Texte gelesen haben, beweist doch, dass es ein Problem gibt.”
Über Social Media kommuniziert die Aktivistin nicht nur ihren Kampf gegen Ableismus, sie nutzt ihre Reichweite auch, um die Black Lives Matter-Bewegung zu unterstützen, die ihren Ursprung in ihrer Wahlheimat Minneapolis hat. Sie verstehe nur zu gut, warum die Leute genug haben von der institutionalisierten Rassifizierung. In ihrem Instagram-Profil verweist sie auf einen Artikel über die intersektionelle Diskriminierung von behinderten Schwarzen Menschen, die sowohl rassistisch als auch behindertenfeindlich behandelt werden können. Auch eine Studie aus dem Jahr 2017 zeigtanhand von Zahlen der US-amerikanischen Bundesbehörde für Arbeitsmarktstatistik mittels Selbsteinschätzungen, dass Schwarze Menschen mit Behinderung ein besonders hohes Risiko haben, verhaftet zu werden: Bei behinderten Schwarzen Menschen unter 28 Jahren lag die Wahrscheinlichkeit dafür bei 55 Prozent. Im Vergleich: Bei weißen Menschen ohne Behinderungen, der am wenigsten betroffenen Gruppe, war dieses Risiko um fast 30 Prozent geringer.
Was andere denken, ist ihr egal – es gefällt ihr zu provozieren
Heute ist es Trista McGovern egal, was andere über sie denken. Es gefällt ihr zu provozieren. Aber ihr Selbstbewusstsein, besonders in Bezug auf ihre Sexualität, trägt viele Narben. „Ich habe nie geglaubt, dass ich keine Sexualität habe. Es war eher so, dass ich nicht Teil dieser Konversation sein konnte. Niemand hat mir einen Stuhl angeboten an dem ‚wir sind alle sexuell‘-Tisch.“ Behinderte Menschen haben – wie jeder andere Mensch – eine Sexualität. Es wird ihnen jedoch deutlich schwerer gemacht, diese zu entdecken und erfüllt zu leben. „Ich hatte ein innerliches Schamgefühl. Wenn meine Freund*innen darüber sprachen, wer attraktiv ist, sagte ich nichts, denn wenn so etwas von mir kommt, ist es den Leuten sofort unangenehm.“ Durch das Schweigen nahmen ihre Mitmenschen sie nicht mit einer Sexualität war – was wiederum auch ihr Selbstbild prägte.
Eine Ursache dafür, Menschen mit Behinderung ihre Sexualität abzusprechen, kann ihre Verkindlichung sein, also dass sie als kindlich wahrgenommen und behandelt werden. „Wenn man uns verkindlicht, wie sollen wir dann jemals lernen, uns selbst sexuell wahrzunehmen?“ Sexuelle Bildung ist nach wie vor einseitig: Sie geht vom Geschlechtsverkehr von zwei heterosexuellen Individuen ohne Behinderung aus. Die mangelnde Diskussion über das Thema Sexualität und Behinderung verwehrt behinderten Menschen nicht nur, ein sexuell selbstbestimmtes Leben zu führen, sie birgt auch Gefahren. Vor allem Frauen mit Behinderung haben ein sehr hohes Risiko, Opfer von sexueller Gewalt zu werden. In den USA wird die Zahl der Opfer von Vergewaltigung mit einer Behinderung auf 39 Prozent geschätzt. Eine Studie des Bundesministeriums (2012) in Deutschland zeigt, dass behinderte Frauen zwei- bis dreimal häufiger von sexueller Gewalt in der Kindheit und Jugend berichten als Frauen ohne Behinderung.
Für Trista McGovern waren wichtige Schritte zur Entdeckung ihrer Sexualität, aus dem Elternhaus auszuziehen, ein weniger konservatives Umfeld und gute Freund*innen, die ihr immer wieder sagten, wie schön und begehrenswert sie sei. „Ich kann eine starke Person sein, aber man kann es wirklich nicht alleine schaffen. Es muss auch von außen kommen.“ Erst mit Anfang 20 traute sie sich das Thema Dating und Sex mit Freund*innen zu besprechen. Heute ist sie 27 Jahre alt. Sie trifft Männer und Frauen – eine*n Partner*in hat sie nicht. „Meistens ist es so, dass die, mit denen ich eine emotionale Verbindung habe, keine körperliche Beziehung eingehen wollen. Und die, die mit mir schlafen möchten, wollen keine Liebe. Ich werde als mögliche Partnerin gar nicht in Betracht gezogen.“
Trista McGovern hat das Schweigen über Behinderung und Sexualität in ihrem und im Leben anderer Menschen gebrochen. Für diesen Kampf hat sie ihre Komfortzone ständig hinterfragt und verlassen – bei Fotoshootings, Dates und intimen Situationen. „Egal wie viel ich an mir arbeite, ständig ist ein kleiner Teil in mir, der denkt ‚ich gehöre hier nicht her, ich sollte mich schämen, ich bin nicht begehrenswert‘ – alles, was ich tue, ist wie ein schmerzhaftes Pflaster-Abreißen.“ Sie sei des Öfteren hin und her gerissen, ob sie sich von Social Media zurückziehen soll, um ein entspannteres Leben zu führen. „Aber dann denke ich an all die Menschen, die noch nicht an diesem Punkt sind, dass es ihnen egal ist, was die Leute von ihnen denken. Viele von ihnen sind ängstlich, unsicher oder erleben Belästigungen, so wie ich früher. Ich muss einfach weitermachen.”