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Eine von drei Bundesministerien in Auftrag gegebene Studie kommt zum Ergebnis, dass Österreich selbst beim derzeitigen Bedarf einen großen Mangel an Dolmetsch in österreichischer Gebärdensprache hat.
In diesem Artikel erfahren Sie den Hintergrund zur Studie sowie Ergebnisse für den Primär- und Sekundärschulbereich.

Hintergrund

Österreich hat sich zum Ziel einer inklusiven Gesellschaft bekannt. Das bedeutet, Betroffenen Selbstbestimmung zuzuerkennen und ihre Mittel, diese Selbstbestimmtheit zu leben, anzuerkennen. Der österreichischen Gebärdensprache kommt für die Inklusion gehörloser Menschen eine zentrale Rolle zu.
Drei Bundesministerien haben daher eine Studie zum Bedarf an ÖGS-DolmetscherInnen beauftragt. Es handelt sich um folgende Bundesministerien:

  • Bundesministerium für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft
  • Bundesministerium für Bildung und Frauen
  • Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz

Das Institut für Höhere Studien hat die Untersuchung durchgeführt und ausgehend von der derzeitigen Ausgangslage im Bildungssektor Interviews durchgeführt, um den Bedarf an Dolmetschung in Gebärdensprache österreichweit abzuschätzen. 

Ausgangslage in der Primär- und Sekundärbildung

Insgesamt sind circa 0,21 Prozent aller österreichischen PflichtschülerInnen hörbeeinträchtigt oder gehörlos. Das sind ungefähr 2.800 bis 3.000 SchülerInnen.
Etwa 1.400 Kinder, die entsprechend der jeweiligen Landesdefinition gehörlos oder hörbehindert sind, besuchten im Schuljahr 2013/14 die Allgemeinen Pflichtschulen. Dast ist ungefähr die Hälfte aller betroffenen Kinder.
Die andere Hälfte wird in Sonderschulen unterrichtet und wurde dabei von Sonderpädagogische Zentren (SPZ) integrativ unterstützt.
Diese Zahlen sagen jedoch wenig über die tatsächliche Anwendung von österreichischer Gebärdensprache im Unterricht aus. Die vorhandenen Daten zeigen, dass 3 Prozent der betroffenen SchülerInnen in Vorarlberg und Tirol in österreichischer Gebärdensprache unterrichtet werden, während 29 Prozent der betroffenen SchülerInnen im Burgenland Unterricht in ÖGS erleben.
Diese Schwankungsbreite ist mitunter bedingt durch bundesländerspezifische Regelungen im Pflichtschulbereich, wird aber auch durch länderspezifische Traditionen in der pädagogischen Arbeit mit verursacht. Darüber hinaus wirken elterliche Entscheidungen mit.
Interviewte berichten, dass das Erlangen höherer Bildung vom Engagement der Betroffenen, ihrer Eltern, einzelner LehrerInnen oder vom Zufall abhängt. Eine interviewte Person berichtete, dass sie schlicht zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort war und von einem Pilotversuch „Lehre für Gehörlose“ erfuhr und einen Lehrplatz fand. Bis zu diesem Zeitpunkt habe es keine Lehrplätze für gehörlose Jugendliche in einem „normalen“ Betrieb gegeben. Viele gehörlose Jugendliche wären damals in geschützten Werkstätten untergekommen.

Fazit und Empfehlungen für die Primär- und Sekundarstufe

Alle Interviewten sind sich zum Schulbereich und der Rolle, die ÖGS im Unterricht spielen soll, in einem Punkt einig: Es braucht viel mehr Gebärdensprache in der Schule. Bei der konkreten Umsetzung gibt es allerdings mehrerer divergierende Ansätze und Meinungen. Die Meinungsverschiedenheiten betreffen besonders die Schulform, die Lehrkräfte und dem Einsatz von ÖGS-DolmetscherInnen.

Schulform

Zur Schulform wurden unterschiedliche Meinungen geäußert, ob gehörlose Kinder integrativ oder in eigenen Schulen unterrichtet werden sollen.
Die Ablehnung der integrativen bzw. inklusiven Schulform, die von Interviewten gleichgesetzt wurde, beruht auf dem (antizipierten) Problem der Isolation. Interviewte vermuten, dass ein gehörloses Kind sich unter 24 hörenden Kindern nicht integrieren könne. Hinzukommt, dass gerade Kinder hörender Eltern häufig laut- wie gebärdensprachliche Defizite hätten, die sie in einer integrativen Beschulung nicht vermittels ihrer Peers kompensieren könnten. Drittens bestünde
bei der integrativen Beschulung die Gefahr, dass die Lerninhalte „runtergebärdet“ würden, weil in Integrationsklassen häufig mehrere Kinder mit unterschiedlichen sonderpädagogischen Bedürfnissen unterrichtet werden, weshalb ÖGS-kompetente Integrationslehrkräfte durchgehend die Lehrinhalte in gleicher Qualität und auf gleichem Niveau gebärdensprachlich weitergeben können. Darüber hinaus würde die Beschulung in einem gehörlosen Setting einer
Spezialeinrichtung auch eine Stärkung der Gehörlosenidentität bedeuten, was wiederum ein Asset einer eigenen Schule wäre.
Die BefürworterInnen von integrativer Beschulung denken dagegen vor allem an Teamteaching und bilinguale Klassen, wobei stets vorausgesetzt wird, dass nicht ein einzelnes gehörloses Kind in einer Klasse sitzt. Bilingualer Unterricht könne
dabei unterschiedlich gestaltet werden: Eine radikale Position wäre, täglich
die Unterrichtssprache zu wechseln, wie das in einer Volksschule in Kärnten mit Deutsch und Slowenisch praktiziert wird. Das Modell, das von den meisten Interviewten präferiert wurde, sieht eine „normal“ ausgebildete Lehrkraft mit ÖGS-Kompetenzen vor sowie eine/n GebärdensprachpädagogIn. Im Gegensatz zum Einsatz von DolmetscherInnen sei nämlich zentral, dass beide Lehrkräfte eine vollwertige pädagogische Ausbildung haben, wobei vor allem das Ziel gehörlose PädagogInnen einzusetzen, mehrfach genannt wurde.
„Native speaker“ hätten dabei neben der pädagogischen auch eine wichtige Vorbildfunktion für gehörlose Kinder.
Von allen Seiten wird  wird die aktuelle Situation als unbefriedigend beschrieben. InterviewpartnerInnen empfinden es als unbefriedigend, dass AbsolventInnen der Sonderpädagogik und nicht aus der allgemeinen Pädagogik, deren ÖGS-Kompetenz unter Maturaniveau liegt, gehörlose Kinder unterrichten würden. Die InterviewpartnerInnen finden, dass die Sprachfähigkeit der Lehrkräfte nicht dem Wissensdrang der Kinder genügt, was zu beidseitiger Frustration führt.
Der Einsatz von ÖGS-DolmetscherInnen wird für die verschiedenen Bildungsbereiche unterschiedlich gesehen.
Im Pflichtschulbereich muss es nach Ansicht aller Befragten ein Angebot an Gehörlosenpädagogik und gehörlose PädagogInnen geben, ungeachtet der Frage, ob gehörlose und hörende Kinder gemeinsam unterrichtet werden oder nicht.
ÖGS-DolmetscherInnen ohne pädagogische Ausbildung seien dagegen nicht optimal, um die Kinder in ihrer Sprache zu unterrichten. Gerade in einer Lehre oder Ausbildung können ÖGS-DolmetscherIn durchaus „ausreichen“, insofern als die Lehr- und Lerninhalte nicht mehr primär pädagogisch sondern fachlich fundiert kommuniziert werden müssen. Das können DolmetscherInnen dann am besten gewährleisten, wenn sie in hinreichender Regelmäßigkeit mit den gehörlosen Lehrlingen an deren Lehrstellen bzw. Ausbildungsstätten arbeiten.

Fazit und Empfehlungen

Aus allen Interviews ging klar hervor, dass es mehr Gebärdensprachkompetenz im Unterricht und mehr ÖGS-DolmetscherInnen in Österreich braucht, um sich dem Ziel einer inklusiven Gesellschaft anzunähern. 
In vielen Gesprächen wurde deutlich, dass der ÖGS eine zentrale Aufgabe und Funktion für die Entwicklung gehörloser Kinder zukommt oder zukommen sollte.
Die Frage der Inklusion Gehörloser ist eng mit der Förderung und Zukunft der ÖGS verbunden. Das bezieht sich auf alle Bildungsebenen und Entwicklungsstadien gehörloser Menschen.
Dabei sei an dieser Stelle auf die Kindergärten als Bildungsbereich hingewiesen, der zwar nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sein konnte, dessen Rolle für die Inklusion gehörloser Menschen aber ebenfalls eine zentrale Rolle zukommen könnte. Bei entsprechendem Zugang zu ÖGS und „normaler“ Förderung des Spracherwerbs kann demnach die ganze Fülle an Sprach- und damit verbundenen kognitiven Fähigkeiten entwickelt werden. Dazu bedarf es aber einer Neuorientierung des öffentlichen Bildes von ÖGS von einem Defizitdiskurs weg zu einem Diskurs der Wertschätzung der sprachlichen und kulturellen Bereicherung.
Die Bewusstseinsbildung ist wesentlich für die Bildungsteilhabe von gehörlosen SchülerInnen. Deutsche Lautsprache ist als Schriftsprache unerlässlich für den Bildungserfolg, doch durch die Beherrschung von ÖGS haben gehörlose Kinder eine Chance deutsche Lautsprache als ihre erste Fremdsprache in einem Maß zu erlernen, die zu voller und wirksamer Bildungsteilhabe befähigt.
Es braucht neue Ideen zur Umsetzung eines bilingualen Unterrichts wobei zuvorderst PädagogInnen mit umfassender ÖGS-Kompetenz gebraucht werden bzw. gehörlose PädagogInnen, die gehörlose SchülerInnen nach einem anspruchsvollen Lehrplan unterrichten können statt sie nur zu „betreuen“.
Mit der Bildungsteilhabe steht und fällt in der Folge die Arbeitsmarktintegration. Und während im Primärbildungsbereich DolmetscherInnen noch keine Rolle spielten, könnten im Berufsbildungswesen DolmetscherInnen zur Verwirklichung von Barrierefreiheit viel beitragen.
Inklusion schafft Bedarf. Je mehr Gehörlose mehr und höhere Bildung erlangen (wollen), desto wichtiger wird die Spezialisierung von DolmetscherInnen. In Berufsschule und Oberstufe, an Fach- und Pädagogischen Hochschulen oder Universitäten kommt den Fachgebärden und den sie gebärdenden DolmetscherInnen eine zentrale Rolle für den Lern- und Arbeitsmarkterfolg der Gehörlosen zu. Und diese sind essenziell für die Verwirklichung von „Autonomie und Unabhängigkeit“, wie es in der Präambel zur UN-Behindertenrechtskonvention heißt.
Hinsichtlich der Arbeitssituation von ÖGS-DolmetscherInnen hat sich gezeigt, dass gerade der angesprochene Spezialisierungsbedarf unter Umständen durch andere Organisations- und Beschäftigungsformen von DolmetscherInnen gefördert werden könnte. Aktuell arbeitet das Gros der DolmetscherInnen selbständig. Anstellungsverhältnisse könnten demgegenüber die Weitergabe von Fachgebärdenwissen fördern, im Tertiärbereich wurde als Wunschvorstellung z.B. eine Fachgruppenorientierung der DolmetscherInnen erwähnt, also dass sich DolmetscherInnen etwa auf breite Studienrichtungen (z.B. Technik, Natur-, Sozialwissenschaften) spezialisieren können sollten. Selbiges gilt aber für alle Bildungseinrichtungen ab der Sekundarstufe. Dabei ist auch die Politik gefordert, einerseits die Ausbildung für ÖGS-DolmetscherInnen zu forcieren aber andererseits auch entsprechende Stellen zu schaffen.
Letzteres ist ein weiteres Problem für die Schätzung des Bedarfs an ÖGS-DolmetscherInnen. Die hohe Zahl an TeilzeitdolmetscherInnen, verbunden mit mangelnder Information über deren Erwerbsausmaß, lässt keine gesicherten Aussagen über die tatsächliche Summe der jährlich in Österreich gedolmetschten Stunden zu. Die Frage der neben- oder hauptberuflichen Tätigkeit ist darüber hinaus wichtig für die Bereitschaft und Möglichkeit der DolmetscherInnen sich zu spezialisieren.
Ziel dieser Studie war es, die Bedarfslage an ÖGS-DolmetscherInnen in den Bildungsbereichen sowie in Bereichen des täglichen Lebens abzuschätzen. Dem Anbot folgend, sollte auf Grundlage der quantitativen Daten eine Schätzung durchgeführt werden, die durch qualitative Interviews gestützt und unterfüttert werden sollte.
Dazu ist festzuhalten, dass trotz der multiperspektivischen Herangehensweise keine endgültige Zahl gehörloser gebärdender Menschen in Österreich ermittelt werden konnte. Daher wurden drei Näherungen, zwei
aufgrund eigener Daten und eine über die bekannte 0,1% Schätzung angestellt, um den aktuellen Bedarf an ÖGS-DolmetscherInnen aufzuzeigen.
Das Ergebnis hiervon ist, dass selbst bei der konservativsten Schätzung an gebärdenden Gehörlosen der aktuelle Bedarf nicht gedeckt ist, ungeachtet dessen, dass die vorgeschlagene Schätzung mögliche Eventualitäten, derentwegen Gehörlosen eine/n ÖGS-DolmetscherIn brauchen, nicht berücksichtigen kann. Das heißt, dass der aktuelle Bestand an ÖGS-DolmetscherInnen abgeschöpft ist; keine der vorgeschlagenen Maßnahmen, die eine stärkere Involvierung von ÖGS-DolmetscherInnen vorsieht, kommt mit der vorhandenen Zahl aus. Hätten etwa gehörlose Kinder und Jugendlich die gleichen Chancen auf Bildung auf der Sekundarstufe, wie andere SchülerInnen mit einer anderen Erstsprache als deutscher Lautsprache, fehlten allein hierfür 27 bis 43 ÖGS-DolmetscherInnen, für eine optimale Dolmetschung mit doppelter Besetzung also bis zu 86 zusätzliche DolmetscherInnen. Und damit allein die derzeitigen NutzerInnen von Dolmetschleistungen diese im Ausmaß von einer Stunde pro Woche erhalten könnten, bräuchte es weitere 29 Vollzeit arbeitende DolmetscherInnen.
Umso dringender erscheint demnach die Forcierung der Ausbildung sowohl von ÖGS-DolmetscherInnen wie von GebärdensprachpädagogInnen und gehörlosen PädagogInnen.
Die UN-Konvention vertritt einen umfassenden Inklusionsbegriff. Das bedeutet nicht, das Leben von Menschen mit Behinderung unter Nicht-Behinderten zu erleichtern, sondern für alle Menschen ein selbstbestimmtes
Leben, „die volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft“ (Artikel 3 der UN-Konvention) zu gewährleisten. Dazu gehört nicht zuletzt die Anerkennung und Förderung der sprachlichen Identität von Gehörlosen (Artikel 24 der UN-Konvention). Die Frage ob die österreichische Gebärdensprache und ÖGS-DolmetscherInnen zur Inklusion Gehörloser beitragen können, hängt aber ursächlich davon ab, dass gehörlose Menschen umfassende Kenntnisse der ÖGS von früher Kindheit an erwerben, sie ihre sprachliche Identität entwickeln können und diese anerkannt und gefördert wird. Womit die Argumentation zum eingangs aufgebrachten Punkt zurückkehrt: ÖGS ermöglicht Gehörlosen die Teilhabe am allgemeinen sozialen Leben, ein Bekenntnis zur Inklusion muss ein Bekenntnis zur ÖGS, ihrem Unterricht, ihrer Förderung und Entwicklung beinhalten. Denn ohne ÖGS sind Gehörlose "taubstumm" mit ÖGS kann Inklusion gelingen.
(Quelle: Jakob Hartl, Martin Unger, Institut für Höhere Studien, Projektbericht: Abschätzung der Bedarfslage an ÖGS-DolmetscherInnen in Primär-, Sekundär- und Tertiärbildung sowie in Bereichen des täglichen Lebens, September 2014)