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Philipp ist noch nicht da. Seine MitschülerInnen haben inzwischen schon den Auftrag bekommen, ein bestimmtes Thema zu malen. Ein Mädchen schiebt sich noch das letzte Stück Obst in den Mund, einige Kinder grübeln über die Buntstiftauswahl ihrer Pennale, zwei kichern, drei sind bereits fast fertig, ein Kind bohrt mit dem Zeigefinger tief in der Nase und schaut gelangweilt aus dem Fenster. Das ist ein völlig normaler Tag in der Volksschule Lermoos.
Inzwischen ist auch Philipp so weit. Er wird von einer Assistenzlehrkraft ins Klassenzimmer gebracht. Philipp ist Autist und Teil der Klasse. Er durfte ein bißchen länger jausnen und noch ein bisschen Musik hören. Jetzt nimmt er einen Stift und beginnt den Auftrag auszuführen.

Kleiner Ort – Große Wirkung

Obwohl Lermoos gerade mal 1000 EinwohnerInnen hat, davon sind 40 im Schulalter, ist die Gemeinde internationalen Besuch gewöhnt. Warum? Lermoos liegt in Reutte, dem Tiroler Bezirk, in dem vor 30 Jahren begonnen wurde, das regionale Sonderschulsystem aufzulösen.
In ganz Europa gilt Reutte als Paradebeispiel schulischer Inklusion und wird von internationalen Delegationen besucht. Der Blick aus Österreich auf den Bezirk Reute ist teilweise ein anderer.

"Es gibt keine nichtintegrierbaren Kinder, es gibt nur nichtkindgerechte Schulen"

Das sagt Norbert Syrow. Er war in den 1980er Jahren Sonderschuldirektor in Reutte. Ab 1985 nahm er keine neuen Kinder mehr in die Sonderschule auf und ließ den Schultyp auslaufen. Seit 1997 sind Sonderschulen in Reutte gänzlich "stillgelegt", wie es richtigerweise heißt, erklärt Syrow, denn grundsätzlich könnten noch immer drei Eltern gemeinsam die Wiedereröffnung einer eigenen Schuleinrichtung für ihre Kinder verlangen. Das ist jedoch seither nicht passiert.
Heute gehen im Bezirk Reutte alle Kinder in die Schule, in die sie gehen würden, wenn sie keine Behinderung hätten – nämlich die nächstgelegene. Man meint: "Jedes Kind lernt anders. Gute Pädagogik bedeutet, dass alle an einem Thema arbeiten, aber jeder nach seinen Möglichkeiten."

Werdegang trotz Widerstand und Drohungen

Vor etwa 30 Jahren begann alles mit Erich, dem Sohn von Heinz Forcher. Als er ein Baby war, atmete er einige Minuten unbemerkt nicht. Das führte zu einer Sauerstoffunterversorgung des Gehirns und zu Lähmungen. Als Erich schulpflichtig wurde, sollte er unter der Woche in einem Heim in Innsbruck untergebracht werden. "Schon ab Dienstag fuhr er mit seinem Rollstuhl zum Ausgang und hat `Papa, hol`n` geschrien", sagt Heinz Forcher. "Er war ein Kind. Er wollte bei seinen Eltern sein."
Nur kurz nachdem im Burgenland die bundesweit erste Integrationsklasse eingerichtet wurde, übrigens gegen heftigen Widerstand, wurde Erich zum ersten Integrationsschüler Reuttes. Anfangs war die Ablehnung umfassend: die Schulen, die Lehrkräfte, Eltern von Kindern mit und ohne Behinderungen, die Schulinspektionen, sie alle wehrten sich gegen Integration in der Schule.
Heinz Forcher erzählt, dass ihm und Syrow "regelmäßig gedroht [wurde]. Dem Norbert [Syrow] mit Disziplinarverfahren. Bei mir im Hotel wurden plötzlich keine Hochzeiten mehr gebucht".

Garantiertes Wahlrecht für die Schule

Seit 1996 haben Eltern in Österreich ein gesetzlich garantiertes Wahlrecht zwischen Sonderschule und Regelschule. Bis heute könnten in Reutte drei Eltern die Wiedereröffnung einer eigenen Einrichtung für ihre Kinder verlangen. Dazu kam es bloß nie, denn die "Bezirksgesellschaft hat sich verändert", erzählt Forcher. Kinder, die mit Erich Forcher in der Volksschule gegangen waren, sind heute in Entscheidungsfunktionen.
"Im Großen und Ganzen ist Behinderung bei uns kein Thema mehr", sagt Heinz Forcher. Österreichweit sieht das anders aus.

Inklusionsgedanke

2001 wurde Forcher und Syrow übrigens der Eduard-Wallnöfer-Preis für die "mutigste Initiative zum Wohle des Landes" verliehen. Anschließend habe anscheinend der Landesschulinspektor alle Bildungseinrichtungen durchtelefoniert, um klarzustellen, dass der Inklusionsgedanke dennoch nichts für alle sei.
Der Bezirk Reutte hat insgesamt 43 Schulen, davon ein Gymnasium, auf dem jedoch noch nie ein Kind mit Behinderung unterrichtet wurde. So weit ist es nicht gekommen, auch wenn die Reutter Schulinspektorin Edith Müller sagt: "Integration bedeutet, dass Kinder, egal welche Sprache, welche Religion, welche Bedürfnisse, dort abgeholt werden, wo sie stehen".
(Quelle: Reportage von Katharina Mittelstaedt, Sonderschulfrei im Inklusionsbezirk – Artikel Der Standard vom 13. November 2014)
(von KI-I)