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Österreich, der angeschlossene Staat, so hat es lange geheißen. Österreich, der durchaus tätige Staat, das wurde lange verschwiegen. Heute wissen wir, dass es in Österreich viele gegeben hat und manche noch gibt, die den Anschluss an Nazi-Deutschland gut geheißen haben.
Eine alte Frau erzählte, dass sie in den Wehen lag als Hitler am Krankenhaus vorbeifuhr und die Ärzte und Krankenschwestern liefen zu den Fenstern und jubelten lieber Hitler zu als die gebärende Frau zu beachten. Das passierte, doch sollen wir diesen Menschen das heute nachtragen? Das Kind wurde glücklicherweise geboren und lebt auch heute noch, ebenso seine Nachfahren.
Eltern, sie schenken einem das Leben, ziehen einen groß, lieben, lachen, scherzen, schimpfen einen. Gut, dass es sie gibt.
Wie verhielten sich Eltern und andere Angehörigen während der Nazi-Zeit? Lachten und scherzten auch sie mit ihren Kindern, auch mit ihren "behinderten" Kindern? Jubelten sie Hitler und Co zu oder verachteten sie diese heimlich oder offen?

„Die Belasteten“

Der Historiker Götz Aly beschreibt in seinem Buch „Die Belasteten“ die zwiespältige Rolle von Angehörigen während der Nazi-Zeit. Euthanasiemorde wurden als „Behandlungen“ verschleiert. „Geisteskranke“ wurden „verlegt“, wenn sie in die Gaskammern transportiert wurden. Eine Verwaltungsmaschine ermöglichte das. Fahrten wurden organisiert, Standesämter und Angehörige informiert.
Sind die betroffenen Angehörigen grundsätzlich „böse Menschen“, weil sie die „Behandlungen“ und „Verlegungen“ zuließen oder kann das grausame Thema auch von einem anderen Standpunkt betrachtet werden?
Kinder mit Behinderung galten als „Erblast für die Sippe“ und daher als bedrohlich. Eltern von Kindern mit Beeinträchtigungen wurden unter Umständen nicht beamtet, kamen beruflich nicht weiter, wurden sterilisiert, um keine weiteren womöglich „belasteten“ Kinder zur Welt zu bringen. Das Kindergeld wurde gestrichen, und zwar für alle Kinder, auch für die „Gesunden“, denn die Sippe war erblich belastet. Solche Familien sollten sich nicht fortpflanzen, hieß es.
Untersuchungen zeigen auch, wie wichtig der Kontakt von Angehörigen und „PatientInnen“ in den Anstalten war. Dieser Kontakt konnte Leben sichern, denn die Stationsgehilfen füllten vor der Ermordung des Menschen einen Fragebogen aus. Dieser wollte auch die Frage beantwortet wissen, ob die PatientInnen regelmäßig Besuch erhielten und von wem. In vielen Fällen gab es darauf keine Antwort.
In der Anstalt Reichenau nahe Konstanz in Deutschland wurden 600 Menschen deportiert und schließlich vergast. Nur 111 Angehörige haben sich einfach oder mehrfach schriftlich erkundigt, was passiert ist. 20 bis 30 der Briefe, das sind etwa fünf Prozent, stuft der Historiker als Protestbriefe ein. Der Historiker erklärt sich das Funktionieren des Euthanasieprogramms T4 durch das passive Verhalten der Angehörigen und meint, spätestens ein halbes Jahr nach dessen Start wussten die Angehörigen Bescheid. Götz Aly meint, man muss den Angehörigen-Aspekt mitbedenken. Wie sonst hätte es gelingen können in nur 18 Monaten 70.000 Menschen allein in Deutschland zu ermorden.
Der Historiker Götz Aly sagt: Die Familien haben an der Ermordung mitgewirkt. Das war in der Forschung lange ein Tabuthema.

75 Jahre danach

Inzwischen sind 75 Jahre vergangen und was passiert ist, soll nicht vergessen werden. Es soll kein "Na und? Egal" zugelassen werden. Dafür gibt es ForscherInnen, die sich an das sensible Thema neu heranwagen. Es gibt den Gedenkort T4.
Es soll noch mehr geben, deshalb ersuchen wir Sie: Schreiben Sie uns Ihre Meinung und Ihre Erfahrungen zu Menschen mit Behinderung während der Nazi-Zeit. Schreiben Sie uns Ihre Geschichten. Vielleicht kennen Sie jemand, den das Schicksal vieler Menschen mit Beeinträchtigung während der Nazi-Zeit ereilte. Vielleicht kennen Sie aber auch Geschichten von Angehörigen, die nachfragten.
Zuletzt noch das: Wollen wir diesen Angehörigen heute gram sein? Würden wir gleich handeln wie sie damals? Hätten wir den Mut unsere Familien und unsere Kinder zu schützen? Seien wir sensibel, horchen wir gut zu, damit das nicht mehr passiert.
(Quelle: Der Beitrag der Angehörigen, Artikel in Science.ORF.at vom 8.3.2013)
(KI-I)