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Im Zuge der Buchvorstellung von Hans Weiss "Tatort Kinderheim – ein Untersuchungsbericht" (Zeitraum 1950 – 1980) und auf Grundlage aktueller Beschuldigungen einer Nutzerin der Lebenshilfe Tirol kommt es nun zu mehreren Stellungnahmen und Artikeln zur Sterilisation von Frauen und Männern mit intellektueller Beeinträchtigung.
Die Lebenshilfen haben nach unserem heutigen Wissensstand niemals von Eltern oder SachwalterInnen verlangt, behinderte Menschen vor der Aufnahme in ein Betreuungsverhältnis sterilisieren zu lassen. Im Gegenteil: Seit den neunziger Jahren hat sich die Lebenshilfe mehrmals in Veröffentlichungen und Stellungnahmen gegen Sterilisation ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung gewandt.

Lebenshilfe empfiehlt und unterstützt Aufarbeitung

Die Sterilisation von Frauen und Männern mit intellektueller Beeinträchtigung ohne ihr Wissen und ihre Einwilligung ist eine klare Menschenrechtsverletzung. Dabei ist zu betonen dass die Bezeichnung "Zwangssterilisierung" irreführend ist, da sie sich auf eine staatlich angeordnete Sterilisation aus eugenischen oder ähnlichen Gründen bezieht. Daher sollte man eher von Sterilisation ohne informierte Einwilligung sprechen. Aber auch diese Fälle müssen aufgearbeitet werden, damit sich so ein gravierender Verstoß gegen die Menschenwürde und die Bürgerrechte von behinderten Menschen nicht ereignet.
Allein das Vergessen oder das Verschweigen solchen Unrechtsgeschehens ist Teil des Unrechts selbst. Auf diesem Hintergrund sollen die aktuellen Debatten zur Aufarbeitung dieser Geschehnisse beitragen.
Die Lebenshilfe als Interessenvertretung behinderter Menschen und ihrer Angehörigen unterstützt aus Überzeugung eine Aufarbeitung. Auch der konkrete Fall in Tirol sollte rasch und vollständig aufgearbeitet werden, auch wenn hier aus den medizinischen Akten klar hervorgeht, dass keine Sterilisation ohne informierte Einwilligung vorlag.
Transparenz und Unabhängigkeit der Aufklärung hat hier hohe Priorität. Daher empfiehlt die Lebenshilfe unabhängige Experten und wird diese bei dieser Arbeit in jeder Hinsicht unterstützen.

Inklusion und Selbstbestimmung auch in Familien und Beziehungen

Die UN-Behindertenrechtskonvention stellt in Artikel 23 (Achtung der Wohnung und der Familie) fest, dass "das Recht von Menschen mit Behinderungen auf freie und verantwortungsbewusste Entscheidung über die Anzahl ihrer Kinder und die Geburtenabstände sowie auf Zugang zu altersgemäßer Information sowie Aufklärung über Fortpflanzung und Familienplanung anerkannt wird, dass Menschen mit Behinderungen, einschließlich Kindern, gleichberechtigt mit anderen ihre Fruchtbarkeit behalten.
Diese Bestimmungen sind eindeutig: Österreich muss ihre Beachtung und Umsetzung gewährleisten und dafür die Rahmenbedingungen herstellen. Dies erfordert einen achtsamen Umgang mit den Themen der Sexualität und der Fruchtbarkeit von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung.

Maßnahmen zur Unterstützung und zum Schutz behinderter Menschen

Bei der Behandlung dieser Fragen sind mehrere Aspekte zu beachten: Einerseits ist die Selbstbestimmung behinderter Frauen und Männer auch in sexuellen Fragen zu achten. Für eine unterstützte Entscheidungsfindung bei Fragen der Fruchtbarkeit, der Empfängnisverhütung oder eines Kinderwunsches ist Sorge zu tragen. Dies gilt auch für den Fall, dass sich eine Frau nach genauer Information und bei gutem Verständnis für eine Sterilisation als Mittel zur Empfängnisverhütung entscheidet.
Unterstützerkreise und Angehörige sollten in die Beratung und Unterstützung der betroffenen Personen oder Paare mit intellektueller Beeinträchtigung einbezogen werden. Für solche Unterstützerkreise oder ähnliche Methoden der unterstützten Entscheidungsfindung sollten rasch gesetzliche Grundlagen geschaffen werden.
MitarbeiterInnen der Lebenshilfe wurden und werden geschult in sexualpädagogischen Themenstellungen und in der achtsamen Begleitung behinderter Menschen zu Themen der Sexualität und der Fruchtbarkeit oder sie können sich entsprechende Beratung holen. In komplexeren Fragestellungen kooperieren unsere Einrichtungen mit externen Stellen für sexualpädagogische Begleitung oder sexualmedizinische Beratung.

Gesellschaftliche Bewusstseinsbildung und Aufklärung

Sexualität, Fortpflanzung und Empfängnisverhütung von Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung sind noch immer Tabuthemen in der Gesellschaft und müssen sorgfältig aufgearbeitet werden.
Gerade der heutige achtsamere Umgang mit der Sexualität behinderter Menschen schärft allerdings unseren Blick auf Unrechtssituationen. In einigen Einrichtungen der Lebenshilfe leben Menschen, die von Angehörigen oder Sachwaltern sowie den behandelnden Ärzten ohne ihre Einwilligung ihrer Fruchtbarkeit beraubt wurden.
Sowohl behinderte Menschen als auch ihre Eltern sahen sich oft beim Thema Sexualität und potentieller Schwangerschaft ausweglosen Situationen und falschen Beratungen, eigenen tiefen Ängsten und gesellschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt. Dies sollte aufgearbeitet werden, die Geschichten dieser Menschen sollen gehört werden.
Ebenso sollten die Geschichten der MitarbeiterInnen, Ehrenamtlichen und Eltern in den Lebenshilfen erzählt werden, die sich Mitte der achtziger Jahre vehement und öffentlich gegen diese weit verbreiteten Vorurteile und Diskriminierungen gewandt haben.
Aufklärung vergangener Sterilisationen ohne Zustimmung und der Rolle von Angehörigen, Sachwaltern, Ärzten und Behindertenorganisationen und gleichzeitig ein klares Bekenntnis zur Unterstützung einer selbstbestimmten Sexualität behinderter Menschen im Sinne der vollen Teilhabe am Leben muss das Ziel der aktuellen Debatte sein.

(von Lebenshilfe Österreich, Quelle: OTS)