Für mich gibt es kaum eine größere Herausforderung, als mehr oder weniger untätig am Straßenrand stehend einem Laufwettbewerb zuzuschauen. Es juckt in den Füßen, die gerne mitmischen möchten. Und doch gibt es Situationen, in denen man über die erzwungene Enthaltsamkeit froh sein muß. Dann nämlich, wenn die Bedingung zur Teilnahme eine erhebliche körperliche Einschränkung wäre. Die nämlich müssen die Athleten vorweisen, die am Marathonlauf der Paralympics teilnehmen.
Henry Wanyoike Joseph Kibunja hatten sich im Mai in Hannover für den heutigen Lauf qualifizieren können. Wann hat man schon mal die Gelegenheit, einen guten Freund zu olympischen Spielen zu begleiten? Ich jedenfalls ergreife die Gelegenheit beim Schopf und fliege nach London, um ihm nahe zu sein. Mit vor Ort ist auch Thorsten, der gemeinsam mit dem Haus den Blindenhandwerks in Esslingen und mir das Technical Institute fort the Blinds in Machakos um eine Besen- und Bürstenproduktion erweitern möchte.
Eine Stunde vor dem Start, der um 8 Uhr erfolgen wird, stehe ich an der Strecke, und zwar am östlichsten Punkt des Kurses, der, von einer kleinen Zusatzrunde am Anfang abgesehen, dreimal zu durchmessen sein wird. Hier stehen schon die Kollegen von BBC, Channel 4, die quasi rund um die Uhr von den Paralympics berichten. Für Deutschland kann ich mir so eine geballte Medienpräsenz nicht vorstellen. Lange habe ich überlegt, ob ich vielleicht doch im Pressewagen vor den Führenden mitfahren soll, aber als laufender Reporter ist man ein Mann der Straße, der das ganze Elend sehen will und nicht nur die absolute Spitze. Ich entscheide mich zunächst, etwas weiter am sogenannten Monument zu stehen, dort kommen die Brüder mit einer Meile Abstand gleich zweimal vorbei. Ich sitze auf einem Poller und warte. Kein Zuschauer ist zunächst zu sehen, da hätte ich wohl doch frühstücken gehen sollen. Na ja.
Um kurz nach halb neun rauscht der Express erstmals an mir vorbei. Die Lichtverhältnisse lassen vorerst leider nur Fotos in bescheidener Qualität zu, aber man kann ein „buntes“ Völkchen mit unterschiedlichsten Einschränkungen erkennen: Gesunde Beine haben alle, teilweise aber nur einen oder einen verkrüppelten Arm, völlig Blinde mit Guide, Läufer mit Restsehstärke mit und ohne Guide, nicht in jedem Fall ist die Behinderung klar zu erkennen. Um die 30 Athleten sind es nur, die hier um die Medaillen kämpfen – keine Mädels! -, alle aber in einer Wertung! Was das soll, und wie man z.B. einen fairen Vergleich zwischen einem Einarmigen, einem Restsehfähigen mit vier abwechselnden Guides und einem vollständig Erblindeten mit nur einem Guide ziehen kann, wird auf ewig das Geheimnis des Internationalen Paralympischen Komitees bleiben.
Egal, meine Helden sind dabei und ich habe einen Kloß im Hals vor Aufregung. „Henry, Joseph, go for Gold!“, schreie ich wie ein Bekloppter, sie erkennen mich, grinsen, recken die Daumen hoch, Klasse! Wow, wann hat man mal einen Kumpel bei solch einem Wahnsinnswettbewerb am Start und darf ihnen so nah sein? Eine Meile später sind sie wieder da und sehen gut aus, liegen bei denen mit Guides in der Spitzengruppe. Ein paar Musikgruppen mischen die kleinen Fangruppen ordentlich auf und nach einer guten Stunde sind Henry und Joseph wieder da, sehen immer noch gut aus und freuen sich über die persönliche Ansprache.
Hier habe ich jetzt genug gesehen, schwinge mich in die U-Bahn und fahre der Themse entlang zur Westminster Abbey an den westlichen Teil des Kurses und warte vor Big Ben. Und warte und warte. Wo bleiben meine Helden? Hektischer Informationsaustausch mit Thorsten, der auf der Tribüne am Zieldurchlauf steht.
Traurige Gewißheit: Henry hat zum ersten Mal in seinem Leben, ausgerechnet heute, ein Rennen abbrechen müssen, eine alte muskuläre Trainingsverletzung ist wieder aufgebrochen und hat die Aufgabe erzwungen. Tief enttäuscht sind sie im Besenwagen gesehen worden und, wie ich über Marion und das Gold-Filmteam erfahre, ins Krankenhaus zur CT gefahren. Ganz dramatisch ist es Gottseidank nicht, aber wir sind schon ganz schön frustriert. Langsam schlendere ich zum Ziel und verfolge mit Thorsten die Zieldurchläufe. Bei den Läufern mit Guide hätte es für die beiden durchaus zu einer super Plazierung reichen können, aber von hätte hat er nichts.
Am nächsten Tag treffen wir uns mit den beiden, die schon wieder lachen können. Ich habe den Eindruck, Henry ist eher bemüht, uns wieder aufzurichten als umgekehrt. So ein guter Kerl! Natürlich macht es keinen Sinn, sich kaputtzulaufen, das Leben geht weiter und hält neue, auch sportliche Herausforderungen bereit. Aber es ist schon bedauerlich, wenn nach drei Monaten Abwesenheit von daheim und totaler Konzentration auf den Sport nichts Zählbares mit nach Hause genommen werden kann. Ich aber habe dieses Abenteuer trotzdem keine Sekunde bereut. Um meine lieben Freunde treffen zu können, ist mir kein Weg zu beschwerlich.
(von Jörg-Henning Meyer)