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Meine Körperbehinderung hat zwar schon oft zu langen Klinikaufenthalten, Zeiten in Gips und Streckverband, vielen Schmerzen und einem etwas isolierten Außenseiter- Dasein während meiner Kindheit geführt. Aber heute, mit knapp 50 Jahren, bin ich froh über meine „Glasknochen“ und über all das, was sie in den letzten 25 Jahren mit sich gebracht haben.
Seit 28 Jahren, als ich die gerade entstehende Selbsthilfegruppe „Deutsche OI-Gesellschaft“ fand und dort aktives Mitglied wurde, hat mein Leben eine vollkommene Wendung genommen und ist ungeheuer reich an immer wieder neuen, meistens sehr schönen und bewegenden Erfahrungen. Und ich habe heute einen großen, internationalen Freundeskreis – sowohl hier in Deutschland als auch rund um die Welt.
Mein während meiner Kindheit eher eingeschränktes Leben – vor lauter Angst, jede falsche Bewegung oder das normale Spielen und Toben mit Gleichaltrigen könne zu schmerzhaften Knochenbrüchen führen – ist heute bunt und abwechslungsreich. Und meine „Glasknochen“ bringen mich durch meine intensive ehrenamtliche Tätigkeit auf nationalem und internationalem Niveau um die ganze Welt.
Seit 1993 bin ich als Vertreterin der Deutschen OI-Gesellschaft im Vorstand der OIFE, der Europäischen Vereinigung von derzeit 26 nationalen OI-Selbsthilfegruppen. Und 2001 wurde ich zur ehrenamtlichen Vorsitzenden dieses Dachverbands. Das bringt viele wunderbare Kontakte zu Menschen jeglicher Herkunft und aus vielen Ländern mit sich. Aber es führt auch zu 10 bis 20 Stunden extra wöchentlich am Computer, das Privatleben, die Zeit für die eigentlich so wichtige Gymnastik und das Muskeltraining, aber auch für Hausarbeiten und Garten, bleibt oft „auf der Strecke“ und die Nächte sind kürzer als mir gut tut.
Von Beruf bin ich Sozialpädagogin und arbeite seit über 20 Jahren in einer Migrationsberatungsstelle eines kleinen Caritasverbandes in Coburg/Oberfranken. Und hier schließt sich der Kreis: Denn auch in meinem täglichen Arbeitsalltag bin ich umgeben von interessanten, meist herzlichen und freundlichen Menschen jeglicher Kulturen und vieler Länder – und ich genieße jeden Tag mit ihnen.

Behinderung bringt MigrantInnen und Einheimische in Kontakt

Bereits seit etlichen Jahren habe ich in meiner eigenen Selbsthilfegruppe, der OI-Gesellschaft, die Erfahrung gemacht, dass die üblichen Hemmschwellen zwischen Menschen unterschiedlicher kultureller Herkunft unwichtig werden, wenn die Gemeinsamkeit einer Behinderung oder Erkrankung Menschen verbindet.
Hautfarbe, Sprach- und Verständigungsschwierigkeiten, Religion, Kleidung (wie z.B. Kopftuch) etc. werden im Nu ganz unwichtig und treten als Barrieren absolut in den Hintergrund, wenn Menschen zusammen kommen, die das gemeinsame Thema „ich habe ein behindertes Kind“ oder „Leben mit meiner Behinderung“ teilen.
Als vor etwa 15 Jahren erstmals eine türkische OI-Familie zu unserem deutschen Selbsthilfeverein stieß, beobachtete ich interessiert und zunehmend fasziniert, was passierte: die Mutter des Glasknochen-Kindes trug Kopftuch, war bedeckt, trug lange Ärmel und ein langes Kleid, die drei waren sofort und deutlich als „Ausländer“ zu erkennen. Und da sind wir Deutschen/Österreicher doch oft erst einmal zurückhaltend bis misstrauisch oder zumindest unsicher …
Aber nein, ich traute meinen Augen kaum, denn sofort gingen mehrere der längeren Vereinsmitglieder ganz selbstverständlich auch auf diese „Neuen“ zu, zogen sie mit ins Gespräch, erklärten und fragten interessiert nach. Und mittags stürzten mehrere Personen eifrig und gastfreundlich in die Küche und machten dort klar, dass es eine Schweinefleisch-freie Alternative für „unsere neue Familie“ geben müsse.
Abends gelang es auch mir endlich, mit den drei neuen Mitgliedern ins Gespräch zu kommen und ich freute mich sehr, als sie ganz glücklich sagten, sie seien noch nie so freundlich aufgenommen worden in einer Gruppe aus lauter Deutschen. Und sie fühlten sich sehr wohl bei uns und würden unbedingt wieder kommen!
Inzwischen haben viele ausländische Familien den Weg in unsere Selbsthilfegruppe gefunden und sie gehören selbstverständlich dazu und bereichern unsere Wochenenden und Seminare durch ihre Beiträge und ihre oft etwas andere Perspektive.
Diese positive Erfahrung aus dem privaten Bereich und dem Erleben meiner eigenen Behinderung führte dazu, dass ich gemeinsam mit Kollegen in Coburg ein besonderes Projekt starten konnte.
Hier lesen Sie mehr über Ute Wallentins ganz besonderes Projekt „Mit-EIN-ander Leben, Von-EIN-ander Lernen, Gem-EIN-sam Vorankommen“.
(von Ute Wallentin in BEHINDERTE MENSCHEN 3 / 2012)