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Anlässlich des 70. Jahrestages der Ermordung von 64 BewohnerInnen des Diakoniewerks im Rahmen des nationalsozialistischen Euthanasieprogramms lädt das Diakoniewerk zu einem hochkarätig besetzten Symposion ein. Es geht jedoch nicht nur um die Aufarbeitung der historischen Ereignisse des Jahres 1941, sondern auch um gegenwärtige Tendenzen, die das Lebensrecht von Menschen antasten.
Beitrag zur Aufarbeitung der Vergangenheit und Sensibilisierung für aktuelle wie zukünftige gesellschaftliche Themen – das sind die Ziele des Symposions "Der Mensch und sein Recht auf Unvollkommenheit", zu dem das Diakoniewerk anlässlich des 70-jährigen Gedenkens an die Opfer der Euthanasie am 14. und 15. April einlädt. Zu dieser Veranstaltung "imSchöffl" in Engerwitzdorf werden hochkarätige ReferentInnen aus Deutschland und Österreich erwartet, wie etwa der auch international bekannte Politologe Univ. Prof. Dr. Anton Pelinka. Sein Thema: "Der Todeskult. Anmerkungen zur Euthanasie und zum NS-Regime". Die weiteren Referenten des historischen Teils: Dr. Brigitte Kepplinger von der Johannes Kepler Universität Linz beschäftigt sich mit der NS-Euthanasie in "Oberdonau", der evangelische Pfarrer Mag. Günter Merz, Leonding, setzt sich mit den Ereignissen in Gallneukirchen auseinander, Prof. Dr. Mathias Benad aus Bielefeld/Bethel spricht über den Widerstand der großen deutschen Sozialeinrichtung Bethel gegen die NS-Krankenmorde.
Doch die Frage, ob der Mensch verbesserungswürdig und verbesserungsfähig ist, wurde nicht nur zur damaligen Zeit gestellt und mit "ja" beantwortet, sondern findet auch heute wieder überwiegend Zustimmung, stellt Dr. Michael Wunder aus Hamburg in seinem Beitrag fest. Was bedeutet das jedoch für Eltern heute, die sich für ihr behindertes Kind entschieden haben und immer häufiger dem Vorwurf ausgesetzt sind, warum sie nicht abgetrieben haben? Mit dem "guten Tod" (so der Begriff Euthanasie in der deutschen Übersetzung) und ethischen Fragen rund um die unterschiedlichen Formen von Sterbehilfe setzt sich schließlich der profilierte Theologe und Mitglied der österreichischen Bioethik-Kommission Univ. Prof. Dr. Ulrich H.J. Körtner auseinander

Kritisch und wachsam bleiben, wenn es um das Lebensrecht geht

"Als Verantwortliche und MitarbeiterInnen im Diakoniewerk müssen wir wachsam bleiben und Einspruch erheben, wenn das Lebensrecht von Menschen mit Behinderung, Menschen im Alter oder kranken Menschen in Frage gestellt wird!" Das erklärt die Rektorin des Diakoniewerks, Mag.a Christa Schrauf, und macht deutlich, warum das Diakoniewerk dieses Symposion veranstaltet: "Keine und keiner von uns weiß, wie sie oder er unter solchen Umständen gehandelt hätte. Wir sind aber heute herausgefordert, durch kritisches Hinsehen, durch öffentliches Benennen von Unrecht und widerständiges Tun dem Menschengerechten Raum zu geben, damit sich nicht wiederholen kann, was 64 Menschen aus dem Diakoniewerk und Millionen von Menschen das Leben gekostet hat."
"Kritisch beobachten wir", so Schrauf weiter, "dass heute in der medialen Öffentlichkeit ein Menschenbild kommuniziert wird und in unserer Gesellschaft den Ton angibt, nach dem das Ideal und der Maßstab der stets leistungsfähige, immer gesunde, stets sportliche, ewig junge und immerwährend dynamische Mensch ist. Menschen mit Behinderung und Menschen im Alter, Menschen in Krankheit finden da kaum Platz. Der Dominanz des Bildes vom vollkommenen Menschen entspricht auch, dass durch die Möglichkeit der Pränataldiagnostik viele Kinder mit Down Syndrom nicht geboren werden. Wir machen mit  unseren Angeboten Familien mit Kindern mit einer Behinderung Mut und zeigen, dass es viele Möglichkeiten der Förderung gibt, die die Entwicklung der Kinder positiv beeinflussen und so ein sinnerfülltes gelingendes Leben auch mit Beeinträchtigung möglich ist."
"Wir protestieren aber auch, wenn Menschen mit Behinderung und Menschen im Alter zum Kostenfaktor degradiert werden, wenn Krankheit nur als Defizit gesehen wird, sondern zeigen auf, welche Möglichkeiten der Begleitung es gibt und welche Chancen in diesen Lebensphasen liegen", betont die Rektorin des Diakoniewerks.

Die Ereignisse in Gallneukirchen vor 70 Jahren

"Es ist uns stets ein Rätsel geblieben, nach welchem Maßstab bestimmt worden ist, was `lebensunwertes Leben` ist. War uns zunächst auch ganz gleichgültig. Wir saßen herum wie die verschüchterten Hühner, ich arbeitete allein in der Werkstatt die laufenden Aufträge ab. Ich konnte eines Tages nicht mehr. Nacht für Nacht standen die ermordeten Kinder vor meinem Bett und weinten, dass ich sie weggegeben hatte. Am Tage arbeiteten die Glieder ganz mechanisch. Das Gehirn bohrte nur ein Gedanke: Ich hätte mitfahren sollen. Ich hätte mitfahren sollen." Das schreibt Diakonisse Charlotte von François, die bereits seit 1927 eine Werkstatt für Menschen mit Behinderung geleitet hatte und am 13. Jänner 1941 zusehen musste, wie diese Menschen abgeholt wurden, in ihren Erinnerungen.
Neben diesem Zeugnis der Ereignisse sind im Archiv des Diakoniewerks Briefe von Eltern und Angehörigen aus dieser Zeit erhalten, in denen sie der Verzweiflung über den Tod ihrer Lieben Luft machen und auch das NS-Regime anklagen. In einer Blitzaktion am 13. Jänner waren zunächst 60 und dann am 31. Jänner weitere vier der damals insgesamt 170 Menschen mit Behinderung von uniformierten "Pflegern" abgeholt und mit schwarzen Bussen nach Hartheim gebracht und ermordet worden. Das jüngste Opfer war ein zweijähriges Mädchen, das älteste ein 77-jähriger ehemaliger Offizier.
In seinem Symposionsbeitrag zeigt Mag. Günther Merz auf, dass die Aktion überraschend kam und zu diesem Zeitpunkt die leitenden Personen der damaligen Diakonissen-Anstalt Gallneukirchen (heute: Diakoniewerk), der Rektor und die Oberin der Diakonissen, nicht in Gallneukirchen waren. Manche der sogenannten Pfleglinge konnten anscheinend durch Einzelaktionen gerettet werden, und es wurde auch gegen die Euthanasie-Maßnahmen protestiert. Allerdings lähmten auch ein Kompetenzstreit und ein Machtkampf innerhalb der damaligen Führung, zwischen den bekennenden Nationalsozialisten und denen, die die Absichten des NS-Regime durchschauten, das Werk.

Inhalte des Symposions

Dr. Anton Pelinka zeigt unter anderem auf, dass die Ermordung von Menschen mit Behinderung eine ökonomische Rationalität hatte: "Wer nicht aktiv zum `Volkswohl` beizutragen vermochte, hatte – eben im Interesse dieses `Volkswohls` – sein Leben verwirkt." Dieses Morden war quasi eine Vorstufe zu dem, was die besondere Dimension des NS-Massenmordens ausmachte: Die Ermordung von Menschen in Auschwitz und anderen Vernichtungslagern. Diese war jedoch von ökonomischen Erwägungen frei: "Das Morden wurde zum Kult".
Dr. Martin Benad beschäftigt sich mit der größten evangelischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Bethel bei Bielefeld. Er zeigt auf, wie der dortige Leiter, Pastor Friedrich von Bodelschwingh, versuchte eine Doppelstrategie zu verfolgen zwischen teilweisen Zugeständnissen an die Machthaber und Widerstand gegen die Maßnahmen. "Die besondere Brisanz dieses `teilnehmenden Widerstandes` lag darin, dass die Grenze zur Kollaboration nicht klar gezogen werden konnte", so Benad. Nicht zuletzt durch seine persönlichen Kontakte zu Hitlers "Euthanasie"-Beauftragten Karl Brandt ist es Bodelschwingh letztlich gelungen, dass Bethel bis Kriegsende unbehelligt blieb.
Dr. Michael Wunder geht in seinem Beitrag unter anderem den Fragen nach: "Wiederholen sich heute im Bereich der Biowissenschaften Dinge, die nach den eugenischen Ausrottungsprogrammen und den Massenmorden im Namen der Euthanasie im Nationalsozialismus für immer überwunden geglaubt wurden? Oder sind die Entwicklungen von heute im Bereich der Reproduktionsmedizin und der Sterbehilfe mit denen von damals nicht vergleichbar, weil sie ohne Zwang und durch jeweils individuelle Entscheidungen geschehen?" Ein spannender Beitrag, der zeigt, dass der Traum von der Schaffung des "perfekten Menschen" bei so manchem Genetiker ethisch höchst gefährliche Blüten treibt.
Dr. Ulrich Körtner möchte in seinem Vortrag zeigen, dass es nicht nur ein Recht auf Leben, sondern auch ein Recht auf Sterben gibt. "Doch hierbei entsteht ein Konflikt zwischen dem Selbstbestimmungsrecht des Patenten, der Fürsorgepflicht des Arztes und dem Menschenrecht auf Leben, aus welchem das gesetzlich verankerte Verbot jeder absichtlichen Tötung folgt." Aus ethischer und theologischer Sicht diskutiert Körtner die unterschiedlichen Formen der Sterbehilfe.
(von www.diakoniewerk.at)