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von Ines Boban und Andreas Hinz, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, entnommen aus [1].
“Wer sind Experten für die Situation von Schülern?” – so fragt im Laufe eines Workshops John O`Brien, Leiter des Center of Human Policy an der University of Syracuse und einer der wichtigsten Vertreter des “Supported Living” (vgl. O`Brien 2000). – “Schüler! Eltern sind Experten für das Leben als Eltern, Lehrer sind Experten für die Situation von Lehrern. Nur Schüler wissen, was es heißt, in dieser Zeit, an dieser Schule, in diesem Unterricht und mit diesen Klassenkameraden Schüler zu sein.” Dieser einfachen Tatsache gilt es Rechnung zu tragen, wenn wichtige Fragen zu klären, notwendige Veränderungen einzuleiten und neue Perspektiven zu entwickeln sind.
Ein Handlungskonzept dazu bietet die “Persönliche Zukunftsplanung” (vgl. Boban & Hinz 1999), bei der es um kleine und große Zukünfte gehen kann. Seine besondere Kraft entfaltet dieses planerische Vorgehen in einem Kreis von Menschen, der als “Circle of Support” bezeichnet wird; in der Übersetzung ins Deutsche setzt sich die Bezeichnung “Unterstützerkreis” durch. Gemeint ist eine neue Qualität von Beziehungen, die das freundliche Aufeinander-Zugehen und freundschaftliche Interesse, respektvolle Anerkennung und gegenseitige Verantwortung lebendig und erlebbar sein lässt.
Flöße und Archen bauen statt Regen vorhersagen!
Zum Beispiel Kyle und sein Unterstützerkreis:
Kyle, ein Junge mit Down-Syndrom und autistischen Verhaltensweisen, ist mit seinen Klassenkameraden in die Highschool gewechselt. Nach einigen Wochen klingelt bei seinen Eltern das Telefon und ein Mitschüler teilt mit, dass in der neuen Schule einiges schief ginge mit und für Kyle; man müsse sich zusammensetzen und ein Mind-Mapping machen. Er bittet sie für Papier und Pizza zu sorgen, da Kyles Unterstützerkreis am folgenden Nachmittag bei ihm tagen wolle. Kyle ist in einer Klassengemeinschaft aufgewachsen, in der das Miteinander- und Füreinanderdenken und -handeln gelernt und geübt wird und in der die SchülerInnen über Techniken, Strukturierungshilfen und Planungsinstrumente verfügen, um effektiv in Prozesse und Entwicklungen eingreifen zu können und als Subjekte handelnd aktiv zu sein: “Was braucht es, damit Kyle ein gutes Jahr im Kindergarten? … in der ersten Klasse? … in der zweiten Klasse? … in der Sekundarstufe hat?” So sind sie es gewohnt, gefragt zu werden und sich selbst zu fragen. Darum kann Kyles Mitschüler selbstbewusst sagen: “Wir kriegen es raus!” Und so werden innerhalb dieses Nachmittags drei Handlungsansätze herausgearbeitet:
Einer der Science-Lehrer hat offensichtlich Angst vor Kyle und schätzt ihn völlig falsch ein, wozu nach Meinung der MitschülerInnen auch Kyles etwas skurriles Verhalten im Unterricht beiträgt, wenn er z.B. monoton eine Spirale dicht vor seinem Gesicht hin- und hergleiten lässt. Zum ersten fordern sie Kyle auf, Spannungen mit weniger irritierenden Aktivitäten abzubauen, und machen ihm dazu Vorschläge. Zum zweiten verhandeln sie, wer wie mit dem Lehrer spricht, um ihm Sicherheit im Umgang mit Kyle zu geben. So sollte er ihm z.B. schriftlich Aufgaben stellen, bei denen Kyle dann beweisen kann, dass er gerade an naturwissenschaftlichen Fragen sehr interessiert ist. Und zum dritten bitten sie die Mutter, mit dem Fahrdienst auszuhandeln, dass Kyle später mit dem Taxi abgeholt wird als bisher, da er sonst die AGs der Schule – und damit den besten Teil des Schultages – verpasst.
O`Brien hebt hervor, dass diese ExpertInnen für die Situation Kyles und anderer SchülerInnen an dieser Highschool ganz selbstverständlich entwickeln, dass “beide Seiten” etwas verändern müssen und können: Es geht darum, neue Möglichkeiten für alle zu gewinnen – mit Humor und Optimismus. “Gewinnen” könnte zu einem zentralen Begriff dieser Geschichte werden.
So wie Eggert (2000) für die Förderplanung fordert, man möge “von den Stärken ausgehen”, und aufzeigt, was “Giftsätze” und “Goldsätze” für beeindruckende (des-)integrierende Konsequenzen haben können, macht auch O`Brien deutlich, dass es für den Ansatz der Persönlichen Zukunftsplanung einen Blick für die Talente und Fähigkeiten von Personen und für die Möglichkeiten und Chancen von Situationen zu entwickeln gilt: “Regen vorhersagen zählt nicht. Brücken und Archen bauen zählt!”
Überdies gilt es, “gute Fragen” zu stellen: “Eine gute Frage ist eine, die nicht leicht zu beantworten ist, so dass sie uns begleitet und uns in tiefere Beziehungen miteinander und in tieferes Denken leitet”, zitiert er Judtih Snow, kanadische Begründerin des ersten Circle of Friends und Initiatorin der ersten Persönlichen Zukunftsplanung. In einer “Sprache der Möglichkeiten” gilt es an solchen Fragen dran zu bleiben.
Fragen wir: “Was ist wenn …?”, begeben wir uns auf eine Abwärts-Spirale in den Problemsumpf hinein, und wir entfernen uns weit von dem eigentlichen Ausgangspunkt. Fragen wir dagegen: “Wie können wir …?”, führt dies zu verschiedenen Ideen und Möglichkeiten und einem Bild, bei dem von einem Zentrum viele Pfeile in verschiedene Richtungen weisen. O`Brien stellt die problem- der chancenorientierten Grundhaltung gegenüber:

Liste der Probleme Liste der Ideen und Möglichkeiten
“Welches sind die Wörter und Sprachmuster, die die Botschaft enthalten, dass wir auf einem Weg abwärts sind?” “Wie können wir in einen positiven Prozess hineinkommen, wie bewegen wir uns selbst hin zum Sprechen und Nachdenken über Möglichkeiten?”
Der Regen wird zur Sintflut erklärt, man kann sich nur davon wegspülen lassen … Alle Menschen haben Potentiale!
Der Behinderte ist zu behindert! Wir können gemeinsam Brücken zu guten Plätzen für alle bauen!
Arbeitgeber und Gesellschaft sind zu unflexibel, hartherzig, vorurteilsbeladen, …!
Pflegesätze! Institutionen!
Gemeinwesen!!!
Kleinmut – Unmut – Vermut – Zumut = kein Mut Großmut – Sanftmut – Wagemut – Anmut = viel Mut
Hier ist kein Glück vorhanden; Scheiße regnet auf die Köpfe … Hier können Glück und Träume sich treffen …

Um das Durchschlagen der pessimistischen Haltung zu verhindern und die optimistische Haltung einnehmen und durchhalten zu können, empfiehlt Doose (1999) eine Moderation, die gekonnt “refraimt”, also es versteht, aus jedem formulierten Vorbehalt eine nachhaltige Möglichkeit zu formen und so einen kraftvollen Schwung für etwas anstelle eines matten gegen etwas zu entwickeln. Einem Menschen und seinem Unterstützerkreis den Blick auf die eigenen Sehnsuchtspunkte am Horizont als maßgebliche Orientierung für alle weiteren Schritte nahe zu legen, das ist die Aufgabe einer solchen Moderation.
Schritte der Persönlichen Zukunftsplanung
Um Schritte zu konzipieren und einzuleiten, eignet sich das Instrument MAP (Making Action Plan; vgl. O`Brien & Forest 1989, 47-52). MAP besteht aus acht aufeinanderfolgenden Etappen, deren wesentliche Ergebnisse auf einem Plakat visualisiert werden.
Nach der Klärung, in welcher Beziehung die Anwesenden zu der Person stehen und worum es bei MAP geht, wird ein Blick auf Bedeutendes aus ihrer Geschichte gerichtet. Als nächstes tauscht sich die Gruppe darüber aus, welche Träume sie für die Zukunft der Person hat, auch eventuelle Alpträume werden kurz angesprochen. Weiter wird zusammengetragen, welche Eigenschaften die Anwesenden an der Person schätzen und was sie in ihr Leben bringt, das es ohne sie nicht gäbe. Ebenso werden ihre Vorlieben, Stärken und Begabungen thematisiert. Anschließend wird gemeinsam besprochen, was die Person für die Erfüllung ihrer Träume braucht. Den Schluss bildet eine Verabredungsliste, in der festgehalten wird, was die Anwesenden konkret zur Umsetzung der Ziele beitragen können – bzw. ist dies der Übergang zum PATH.
Für die weitergehende Klärung von Visionen, Zielsetzungen und die Konkretisierung von Veränderungen bietet sich das Instrument PATH an (Planning Alternative Tomorrows with Hope; vgl. Pearpoint, O`Brien & Forest 2001). Auch hier ist die Visualisierung eine zentrale Hilfe: Der große Pfeil des PATH wird in acht Schritten mit Bildern, Symbolen und Stichwörtern gefüllt.
Zunächst werden die Prinzipien der Qualität, die zukünftig im Leben verwirklicht werden sollen, als “Nordstern” fixiert (1). Danach wird die Gruppe mit einer imaginären Zeitmaschine ein Jahr weiter in die Zukunft versetzt; von dort blickt sie auf ein außerordentlich erfolgreiches Jahr – oder einen anderen vereinbarten Zeitraum – zurück, sammelt konkrete Ereignisse, Nachrichten, Daten (2). Nach der Rückkehr ins Jetzt sammelt sie – im Kontrast zu den Zielen – Begriffe und Bilder, die für die Gegenwart kennzeichnend sind (3). Im folgenden Schritt gilt die Aufmerksamkeit der Frage, wen man auf welche Weise zum Erreichen der Ziele im nächsten Jahr einbeziehen kann (4). Die nächste Frage gilt der Stärkung der eigenen Kräfte – professionell und persönlich (5). In einem weiteren Schritt wird aus der Perspektive von `nach drei Monaten` Rückschau gehal­ten: Antizipierte Entwicklungen und Höhepunkte der vergangenen drei Monate werden aufgezeichnet (6). Der vorletzte Schritt nimmt den Zeitraum `ein vergangener Monat` in entsprechender Weise in den Blick (7). Schließlich folgt die Frage, wie der erste Schritt zur Veränderung am folgenden Tag aussehen kann (8). Damit ist die gedankliche Reise von der Utopie über den Kontrast mit der Gegenwart zu konkreten Phasen eines Veränderungsprozesses vollzogen.
Den Weg beim gemeinsamen Gehen entstehen lassen…
Ein Unterstützerkreis besteht aus den Menschen, auf die die betreffende Person in ihrem Leben allgemein – oder zu einer bestimmten Fragestellung speziell – vertraut und baut. Sie trifft die Wahl und entscheidet, wen sie dazubittet. Wichtig ist eine Vielfalt der vertretenen Beziehungen und Wahrnehmungen, also die Heterogenität des Unterstützerkreises, denn so können ergänzende inspirierende Blicke auf die Situation der Person im Mittelpunkt zu einer neuen gemeinsamen Sicht und Perspektive führen. Nicht selten ist aber die Situation von Familien mit einem Kind mit besonderen Bedürfnissen eine eher isolierte. Um einen Personenkreis zu finden, der zu einem Unterstützerkreis werden könnte, braucht es neue Chancen des Kontakts und Kennen Lernens – auch über die Schule hinaus.
Persönliche Zukunftsplanung als Veränderung von Gemeinschaft
Es geht in Persönlichen Zukunftsplanungen auch um eine Veränderung der Gemeinschaft – von und für die Gemeinschaft, die eben aus vielen mehr oder weniger abhängigen Individuen besteht. Angenommen unsere Projektionen von einer Zukunft entscheiden maßgeblich darüber, welche Qualität sich zukünftig in unserer Gegenwart zeigt – und alles spricht dafür -, dann sollten wir mit Lust und Offensivität an diese Projektionen herangehen. Die Erfahrung zeigt: Wenn sich ein geladener Kreis von zugewandten Menschen einbringt und als zentrales gemeinsames und gegenseitiges Geschenk Zeit beiträgt (bewährt hat sich samstags ca. von 10 bis 16 Uhr), können sich Kraft, Empathie, Sensibilität, Wahrnehmungsfähigkeit, Kreativität, Phantasie gegenseitig bestärken und Beziehungen sich entfalten, wachsen und zu einem tragfähigen Netz verknüpfen – mit dem Risiko, immer auch scheitern zu können. Ermutigung und Inspiration, Humor und gegenseitiges Ernstnehmen, Freiheit des Wünschens und die Grundlage der Bürgerrechte, Verbindlichkeit und “radikaler Respekt” (vgl. Hartkemeyer, Hartkemeyer & Dhority 1999) sind die tragenden Elemente einer solchen Denk- und Planungsrunde. Zu Strukturierungsmöglichkeiten, Visualisierungstechniken und Dokumentationsformen gibt es bei Doose (1999) und Boban & Hinz (1998, 1999) zahlreiche Hinweise.
Wie oben beschrieben empfiehlt sich eine externe Moderation zum Auftakt, also zur ersten Zukunftsplanung, bei der es möglicherweise zur Vereinbarung weiterer Treffen und zur Konstituierung eines Unterstützerkreises kommt. Schlusspunkt der ersten Planungssitzung ist die Wahl einer Agentin oder eines Agenten, die die Absprachen und Mikroziele auf dem Weg zum Makroziel im Blick behält.
Persönliche Zukunftsplanung – für alle, ohne Voraussetzungen!
Wenn Snow und O`Brien auffordern, die “großen Fragen” zu stellen, was heißt das dann allgemein und speziell im Einzelfall? Wir müssen lernen, andere Schlüsselfragen als bisher zu stellen, zum Beispiel: “Unter welchen Bedingungen kann diese Person sich entdecken und ausdrücken, wer sie als ein bekannter und geschätzter Beitragender zu unserer Gemeinschaft ist?” Insbesondere wenn wir diese qualitativ revolutionäre Frage für Menschen mit schwerer Mehrfachbehinderung und ohne Lautsprache oder anderen Möglichkeiten der Verständigung stellen, werden die daraus resultierenden radikal neuen Konsequenzen überdeutlich. Je größer das daraus erwachsende Fragezeichen, um so tief greifender werden die Veränderung der Beziehungen, der Gemeinschaftsstrukturen und der Rolle unterstützender Dienste.
Cynthia lebt von Geburt an in einer Einrichtung, die trotz der auch dort knappen Ressourcen und teilweise dramatischen Arbeitsbedingungen als relativ gut gilt. Dennoch hat Cynthia in letzter Zeit beängstigend an Gewicht verloren, da das Essenreichen bei ihrer starken Tetraspastik sehr zeitaufwendig ist. Mittlerweile muss Cynthia per Sonde ernährt werden, so dass ihr auch die Aufmerksamkeit während der Mahlzeiten verloren geht. Immer im Bett liegend und eher schlecht als recht versorgt, erscheint ihre Konstitution physisch wie psychisch bedrohlich zart und zerbrechlich.
Die große Frage für Cynthia ist nicht, so O`Brien, wie die Institution “repariert” werden kann, in der sie lebt. Die Frage lautet: “Wie kann eine lebenswerte Welt für Cynthia gestaltet werden und was braucht sie primär dafür?” Die einfache große Antwort heißt selbstverständlich: Eltern und eine Familie! So hat der Unterstützerkreis Cynthias, der zunächst aus einigen wenigen Professionellen besteht, eine eindeutige Vision, ein Ziel, für das die Ausarbeitung eines Aktionsplans folgt, in dem alle Beteiligten einen Aspekt übernehmen – bis eine Pflegefamilie für Cynthia gefunden und ihr Auszug aus der Institution in ein Zuhause vollzogen ist.
Selbstverständlich sollten wir also auch – und vielleicht gerade – mit und für Menschen, die über kein eindeutiges Verständigungssystem verfügen, Persönliche Zukunftskonferenzen im Rahmen von Unterstützerkreisen nutzen (vgl. Boban & Hinz 1999). Denn wenn wir dies nicht täten, so O`Brien, enthielte dies die Botschaft, dass sie keine Zukunft haben, ja keine Personen sind; dass ihnen keine Vorfreude (er)möglich(t) ist, sie wie ein Möbelstück nur eine Gegenwart kennen und haben, das von Tag zu Tag existiert. Dies hieße die Fortschreibung des institutionellen Mottos: “Hauptsache sicher, satt und sauber!”
Einordnung in die Entwicklung der sogenannten Behindertenhilfe>
Bereits vor über 20 Jahren haben Milani-Comparetti und Roser in einer Gegenüberstellung darauf hingewiesen, dass die “Medizin der Krankheit” Menschen mit Behinderungen zu PatientInnen mache und die “Trennung vom eigentlichen Lebensraum” betreibe, während eine “Medizin der Gesundheit” sie als BürgerInnen ansehen und zum “Leben in sozialer Umwelt” beitrage (vgl. Milani-Comparetti & Roser 1981/1999, 50).
Später unterscheidet V. J. Bradley, US-Präsident Clintons Beraterin in Fragen der Behindertenpolitik, in einem Überblick verschiedene Entwicklungsphasen des Betreuungs- / Hilfe- / Unterstützungssystems für Menschen mit Behinderungen. Diese Systematik wird bei verschiedenen AutorInnen ähnlich zitiert und hier in einer vereinfachten Fassung wiedergegeben (vgl. Abb. 4).
Lange verharrte das Hilfesystem für Menschen mit Behinderung in einer Phase der Institutionsreform: In dieser Zeit wurden Menschen mit Behinderungen als PatientInnen gesehen, die in Institutionen nach medizinischen und pflegerischen Maßstäben gepflegt und betreut wurden. Die hierfür – mit hoffentlich guter Qualität – aufgestellten Betreuungs- und Versorgungspläne wurden durch entsprechende Fachkräfte kontrolliert, Entscheidungen dem Stand fachlicher Theorie und Praxis folgend gefällt, wobei die Priorität für den entsprechenden Personenkreis bei der Befriedigung von Grundbedürfnissen gesehen wurde. Das entscheidende Problem bestand in der Behinderung, in Schädigungen und in Defiziten des Individuums – und das galt es durch Behandlung und Therapie zu lösen.
Später, so Bradley, war man fortschrittlicher: Nun ging es um De-Institutionalisierung! Die Klientel bestand nicht mehr aus PatientInnen, sondern es waren KlientInnen, die außerhalb von Institutionen und daher in Wohngruppen, Werkstätten, Sonderschulen und im Sonderunterricht nach dem entwicklungspsychologischen und oft verhaltenstherapeutischen Modell zu fördern waren. Dafür wurden von Teams in interdisziplinärer Übereinkunft individuelle Erziehungs-, Förder-, Therapie- und Qualifizierungspläne aufgestellt, die ebenso kontrolliert wurden. Vorrangiges Ziel der Förderung – dieser Begriff wurde nur von wenigen Fachleuten kritisch hinterfragt – war die Tüchtigkeit, und das größte Problem bestand in der Abhängigkeit und in der Unselbstständigkeit der KlientInnen. Dieses löste man – individuell hoch differenziert – in der jeweils am wenigsten einschränkenden Umgebung (`least restrictive environment`).
Heute und zukünftig geht es dagegen nach Bradley um etwas Anderes: Das Unterstützungssystem verfolgt das Konzept “Leben mit Unterstützung” (Lindmeier 2002, 221) und hat es weder mit PatientInnen noch mit KlientInnen zu tun, sondern – mit BürgerInnen. BürgerInnen leben bekanntlich in üblichen Wohnungen als MieterInnen oder EigentümerInnen, gehen in die wohnortnahen üblichen Kindergärten und Schulklassen, arbeiten in üblichen Betrieben oder Behörden und verbringen ihre Freizeit in den üblichen Gruppierungen. Sie brauchen nicht vor allem Pflege, Betreuung oder Förderung, sondern Assistenz – und zwar nach dem Modell individueller Unterstützung. Und genau hierfür sind gemeinsame persönliche Zukunftsplanungen ein Schlüsselelement, in deren Rahmen die Betroffenen selbst im Kontext von Unterstützerkreisen alle Entscheidungen kontrollieren. Die Priorität dieser Prozesse liegt nicht mehr in den Grundbedürfnissen oder in der Tüchtigkeit – Selbstbestimmung in sozialer Kohäsion ist der Maßstab, an dem sich Planungen ausrichten. Und das Problem liegt nicht mehr in der Person, um die es geht, sondern in den Umwelthindernissen, die die soziale Teilhabe erschweren – und die Lösung dieses Problems liegt demzufolge in der Umgestaltung der Umwelt im Sinne einer inklusiven Gesellschaft, die die Bürgerrechte aller ihrer BürgerInnen respektiert und realisieren hilft.
Bradley zeigt auf, dass mit dem Schritt von der Institutsreform zur De-Institutionalisierung zwar die Organisationsformen verändert wurden, sich aber die Sichtweise auf die Klientel – von der Machtverteilung zwischen BetreuerInnen / FörderInnen und Betroffenen ganz zu schweigen – nur in geringem Maße geändert hat. Erst der Schritt von der De-Institutionalisierung zum “Leben mit Unterstützung” hat tatsächlich eine grundlegende Qualität, denn hier wird die Zweiteilung der Menschen in die `Eigentlichen` und in die `Auch-Menschen` als PatientInnen oder KlientInnen aufgegeben zugunsten der Anerkennung aller als BürgerInnen.
So lange also eine institutionelle Orientierung vertreten wird, stellt sich die Herausforderung von Persönlicher Zukunftsplanung und Unterstützerkreisen nicht – es ist ohnehin klar, wo(rin) die Zukunft liegen wird. In der modernisierten Form der Dezentralisierung von Institutionen stellt sie sich auch noch nicht ernsthaft; wiederum wird von ExpertInnen entschieden, wie die Zukunft der KlientInnen auszusehen hat, ob beim Wohnen, bei der Arbeit, in der Freizeit oder auch schon in näheren Zukünften in Kindergarten und Schule. Erst in der Entwicklungsphase des Lebens in und der Anteilnahme an der Gemeinschaft bilden Individuelle Zukunftsplanung und Unterstützerkreise eine zentrale Schlüsselstelle.
Nicht für andere – mit anderen!
Neben der Notwendigkeit, dass Menschen – eher außerhalb institutioneller Zusammenhänge – für die Moderation Persönlicher Zukunftsplanung und für die Initiierung von Unterstützerkreisen gewonnen werden müssen, besteht Bedarf an Aus- und Fortbildung, die momentan vornehmlich im Schneeballsystem über das Mitmachen geschieht. Dies ist auch insofern logisch, als es kein obligatorisches Vorgehen sein kann, Zukunftsplanung und Unterstützerkreise innerhalb von Institutionen durchzuführen, denn die Freiwilligkeit der Beteiligten ist ein bedeutender Faktor im Prozess. Menschen müssen also von der Kraft innerhalb eines solchen Vorgehens erfahren können, und hierbei spielen informelle Netzwerke und Selbsthilfegruppen wie Eltern für Integration, Autonom Leben und People First eine zentrale Rolle. Dabei sollten übrigens zukünftige ModeratorInnen eine Persönliche Zukunftsplanung für sich selbst initiiert haben, bevor sie sie für andere moderieren. John O`Brien rät: “Verändere deine Situation mit Hilfe anderer, bevor du für andere Veränderungen mit anstrebst.”
Literatur
Boban, Ines (2003): Person Centred Planning and Circle of Friends – Persönliche Zukunftsplanung und Unterstützerkreis. In: Feuser, Georg (Hrsg.): Integration heute – Perspektiven ihrer Weiterentwicklung in Theorie und Praxis. Frankfurt am Main: Peter Lang 2003, 285-296
Boban, Ines & Hinz, Andreas (1998): Diagnostik für integrative Erziehung. In: Eber­wein, Hans & Knauer, Sabine (Hrsg.): Handbuch Lernprozesse verstehen. Wege einer neuen (sonder-)pädagogischen Diagnostik. Weinheim: Beltz, 151-164
Boban, Ines & Hinz, Andreas (1999): Persönliche Zukunftskonferenzen. Unterstützung für individuelle Lebenswege. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 22, H.4/5, 13-23
Boban, Ines & Hinz, Andreas (2000): Förderpläne – für integrative Erziehung überflüssig!? Aber was dann?? In: Mutzeck, Wolfgang (Hrsg.): Förderplanung. Grundlagen – Methoden – Alternativen. Weinheim: Deutscher Studien Verlag, 131-144
Bradley, V. J. (1994): The New Service Paradigm. In: Inclusion, Nachrichten von Inclusion International, Mai 1998, Nr. 20
Doose, Stefan (1999): Persönliche Zukunftsplanung. In: Kan, Peter van & Doose, Stefan: Zukunftsweisend. Peer Counceling & Persönliche Zukunftsplanung. Kassel: bifos, 71-134
Eggert, Dietrich (42000): Von den Stärken ausgehen … Individuelle Entwicklungspläne (IEP) in der Lernförderungsdiagnostik. Dortmund: Borgmann
Hartkemeyer, John F., Hartkemeyer, Martina & Dhority, L. Freeman (21999): Miteinander denken. Das Geheimnis des Dialogs. Stuttgart: Klett-Cotta
Hinz, Andreas (2003): Vom sonderpädagogischen Verständnis der Integration zum integrationspädagogischen Verständnis der Inklusion!? In: Sander, Alfred & Schnell, Irmtraud (Hrsg.): Inklusive Pädagogik verwirklichen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt (im Erscheinen)
Krüger, Carsten (2000): Supported Living: “Ich bin über 40 Jahre alt. Dies ist mein eigener Schlüssel. Zum allerersten Mal habe ich einen eigenen Schlüssel.” Geistige Behinderung 39, 112-124
Lindmeier, Bettina (2002): Blick über den Zaun – Eindrücke aus ausgewählten europäischen Ländern. In: Thimm, Walter & Wachtel, Grit (Hrsg.): Familien mit behinderten Kindern. Wege der Unterstützung und Impulse zur Weiterentwicklung regionaler Hilfesystems. Weinheim/München: Juventa, 215-240
Lindmeier, Bettina & Lindmeier, Christian (2001): Supported Living. Ein neues Konzept des Wohnens und Lebens in der Gemeinde für Menschen mit (geistiger) Behinderung. Behinderte in Familie, Schule und Gesellschaft 24, H.3/4, 39-50
Milani-Comparetti, Adreano & Roser, Ludwig Otto (1981/1999): Förderung der Normalität und der Gesundheit in der Rehabilitation. In: Schöler, Jutta (Hrsg.) (1999): Normalität für Kinder mit Behinderungen: Integration. Neuwied/Berlin: Luchterhand, 39-51
O`Brien, John (22000): A Guide to Personal Futures Planning. In: O`Brien & O`Brien, 133-150
O`Brien, John & Forest, Marsha (1989): Action for Inclusion. Toronto: Inclusion Press
O`Brien, John & O`Brien, Connie Lyle (Eds.) (22000): A little book about Person Centered Planning. Toronto: Inclusion Press
Pearpoint, Jack, O`Brien, John & Forest, Marsha (42001): PATH: Planning Alternative Tomorrows with Hope. A Workbook for Planning Possible Positive Futures. Toronto: In-clusion Press
Hilfreiche Internetadressen zum Thema
Inclusion Press: http://www.inclusion.com
Center on Human Policy der University of Syracuse: http://sueweb.syr.edu/thechp
[1] Veröffentlichungsquelle: Feyerer, E. & Prammer, W. (Hrsg.): Qual-I-tät und Integration. Beiträge zum 8. PraktikerInnenforum. Schriften der Pädagogischen Akademie des Bundes in Oberösterreich, Band 16. Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner, 2004, ISBN 3-85487-570-3, 465 Seiten.