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(Artikel aus der Zeitschrift “behinderte menschen” Heft 5/2009 – erschienen im Oktober 2009; Kontakt: Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.behindertemenschen.at)
von Dorothea Wolf-Stiegemeyer

"Nicht mit dir und nicht ohne dich" – Ein Leben zwischen Liebe und Überforderung

Seit 1994 ist eine kaum auflösbare Ambivalenz Bestandteil des Lebens von Marianne Glaßer: Sie liebt ihren Sohn Mathias über alles und kann es doch kaum ertragen, mit ihm zu leben. Was sie fühlt und wie es ihr im Alltag geht, das schildert sie in eindrucksvollen Veröffentlichungen.
Als vor 14 Jahren ein hübscher Junge mit blonden Locken geboren wird, ist die Welt für Marianne Glaßer nicht nur in Ordnung, sondern voll von Gott gewolltem, tief empfundenem Glück. Die Eltern nennen ihr erstes Kind Mathias: Geschenk Gottes. Das Glück ist jedoch zerbrechlich. Mathias scheint zu ruhig, zu passiv und zu pflegeleicht zu sein. Eine Behinderung wird vermutet.
Völlig verzweifelt fragt die Mutter nach dem Sinn. Haben sie etwas falsch gemacht? Eine Sünde begangen? Will Gott sie für etwas strafen? Fragen über Fragen. Keine wirkliche Antwort, die ihr das Leid erleichtern könnte. Wo ist der Gott ihrer Kindheit und Jugend? Wo ist der Gott, der es doch immer gut mit ihr meinte? Zunehmend zeigt sich das Ausmaß der Behinderung von Mathias: Er ist Epileptiker, körperlich beeinträchtigt und kann kaum sprechen. Bis an den Rand der Belastbarkeit wird Frau Glaßer durch Mathias` intensives Verhalten gebracht. Seine veränderte Wahrnehmung aufgrund der autistischen Züge und seine Hyperaktivität prägen den Alltag rund um die Uhr. Völlige Erschöpfung, Trauer, Verzweiflung, Ratlosigkeit und das Gefühl der Gottverlassenheit sind lange Zeit ihre ständigen Begleiter. So weit die biographische Schilderung, die viele Eltern mit Behinderung lebender Kinder in ähnlicher Weise erlebt haben könnten.
Was Frau Glaßer von den meisten anderen Müttern unterscheidet, ist ihre bedingungslose Ehrlichkeit und ihr Mut, auch unbequeme Wahrheiten öffentlich klar und deutlich zu benennen. Dabei schildert sie auf ihre prägnante Art sowohl Erlebnisse aus dem Familienalltag wie auch ihre ganz persönlichen Wahrnehmungen, ihre Gedanken und Gefühle mit großer Offenheit und ohne Rücksicht darauf, ob sie in den Augen anderer als eine “gute Mutter” bestehen kann.

Schreien, Chaos und Weihnachten im Keller

Im Jahr 2002 hat sie die ersten Jahre ihrer Lebens- und Glaubensodyssee in dem bemerkenswerten Buch: “Wachsen im Gegenwind” zusammengefasst. In kurzen Artikeln schreibt sie seitdem immer wieder über ihre Erlebnisse mit ihrem Herzenskind, das sie regelrecht in den Wahnsinn treiben kann. Mathias ist nicht der “Sonnenschein” der Familie, wie viele Eltern ihr mit Behinderung lebendes Kind charakterisieren. Das Leben mit ihm ist keine heile Welt, sondern eine Welt, die sich oft in Unordnung und Chaos befindet. Frau Glaßer berichtet von Mathias` unkoordiniertem Aktionismus, der die Wohnung verwüstet. Von seinem lauten Kreischen und seinen schreienden Forderungen, die das Haus bis in den letzten Winkel ausfüllen und selbst von dem Körper seiner Mutter Besitz zu ergreifen scheinen. Gesellschaftliche Gepflogenheiten hat sie nach und nach abgelegt.
Bei ihr gibt es z. B. seit dem letzten Jahr keine bemühte Weihnachtsatmosphäre mehr: “Keine Zweige, kein Bratenduft und keine bunten Päckchen, keine Rührung und keine Selbstlüge, dass die Welt doch in Ordnung sei. Und wenn wir später am Abend im Kellerraum landen, weil sich Mathias in der Leere von dem Neuen am besten beruhigt und aufhört zu kreischen und zu zerstören, wenn wir bei Heizölgeruch im Halbdunkeln auf den Isomatten kauern und hoch auf dem Schrank eine Kerze brennt, die er weder ausblasen kann noch mit den Fingern hineinfassen, werde ich diesmal froh sein, dass Weihnachten ist.”

Verletzung, Enttäuschung, Hilflosigkeit

Wie gerne würde Frau Glaßer ihren Sohn einfach nur so lieben, wie es bei der 1998 geborenen Tochter Wilhelmine möglich ist. Aber ein Kind, das plötzlich aus nicht erkennbarem Grund schreit und um sich schlägt, zu lieben, ist schwer. Es verletzt die Mutter rein körperlich, wenn sie getroffen wird. Aber es verletzt auch, wenn all die Mühen um eine wohltuende Atmosphäre, um ein entspanntes Miteinander und einen Anteil an gesellschaftlicher “Normalität” zunichte gemacht werden. Und noch mehr verletzt es die Mutter, wenn all die Liebe, die sie immer wieder trotz dieser Verletzungen empfindet und in die Beziehung einbringt, mit Aggression, Schimpfen und Spucken erwidert werden. Frau Glaßer spricht offen über ihre Gefühle der Wut, der Verletzung, Enttäuschung,  Hilflosigkeit, Resignation und Verzweiflung.
Sie weiß von der Scham, die sie überfällt, wenn Mathias sich in einem Supermarkt oder auf der Straße schreiend auf den Boden legt und Passanten sie befremdet oder empört ansehen. Sie kennt die Gedanken, zur Erziehung unfähig zu sein, die immer wieder das Selbstwertgefühl angreifen. Sie inszeniert sich nicht als treusorgende Übermutter, sondern räumt das Gefühl des Einfach-nur-Wegwollens ein, “das bei uns nicht selten entsteht, wenn er stundenlang herumschreit, alles will und mit nichts zufrieden ist und die Wohnung sich allmählich in einen Müllplatz verwandelt.”
Als Frau Glaßer 2001 und 2003 schwer erkrankt, wird deutlich, dass die Familienkonstellation so nicht mehr haltbar ist. Mathias zieht in ein Heim, wo er sich wesentlich unproblematischer verhält. Die Mutter erlebt die Trauer, wenn sie andere behinderte Kinder mit glücklichen Familien sieht, eben weil Mathias nur noch am Wochenende nach Hause kommt. Bevor die Heimaufnahme möglich wurde, haben die Eltern Kräfte zehrende Zerreißproben aushalten müssen: “Mit ihm leben zu wollen, aber nicht zu können und dabei immer erschöpfter und schließlich selbst krank zu werden. Sich in ein unentwirrbares Knäuel von Fragen zu verstricken: Was ist das Beste für ihn? Was ist das Beste für uns? Was ist das Beste für seine Schwester? Wie lässt sich dies alles zu etwas kombinieren, das für jeden erträglich ist?”

Lyrik und Kurzprosa mit Situationskomik

All diese Alltagsszenarien schildert Frau Glaßer dem Zuhörer oder Leser auf ehrliche, aber auch eloquente, manchmal zu einem Kopfschütteln oder einem Schmunzeln anregende Art. Und dazu gehören eben auch viele entspannte, lockere Momente mit einer Portion Situationskomik. Seit 2002 arbeitet Frau Glaßer als Lektorin und Dipl.-Übersetzerin für Französisch und Italienisch für verschiedene Verlage. Bekannt geworden ist sie durch ihre Lyrik und Kurzprosa, die in vielen Literaturzeitschriften und Anthologien abgedruckt wurde. In diesem Jahr wurden ihre “Mutter-Aphorismen” sogar in die Anthologie zum Würth-Literaturpreis aufgenommen. Ihr verstehender Blick auf die Menschen und ihre durch das Durchleben der existentiellen Lebenskrise geschulte Wahrnehmung machen ihre Werke zu etwas Besonderem.
Im Mai 2009 ist ihr zweites biographisch geprägtes Buch: “Keine heile Welt” erschienen.


Inhaltsverzeichnis Heft 5/2009

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