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(Artikel aus der Zeitschrift “behinderte menschen” Heft 4/2009 – erschienen im September 2009; Kontakt: Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.behindertemenschen.at.)
von Dorothea Wolf-Stiegemeyer

Ein glückliches Inseldasein – Drillinge mit Autismus

“Haben Sie sich schon einmal Gedanken darüber gemacht, nach welchen Gesichtspunkten die Mütter behinderter Kinder auserwählt werden?” Diese Frage stellt Erma Bombeck in der Geschichte “Die Spezialmutter”. Wenn man Ulrike Meier erlebt, fallen einem eine Vielzahl an Argumenten ein, die Gott – im Sinne der oben erwähnten Geschichte – bewogen haben mag, sie als Mutter von vier Kindern auszuwählen. Die erstgeborenen Drillinge leben mit Autismus. Eine Herausforderung besonderen Ausmaßes.
Mit 27 Jahren wird die gelernte Krankenschwester schwanger. In der 16. Schwangerschaftswoche ist es ist die Mitteilung: “Es sind Drillinge”, die aus der Wunsch- eine Risikoschwangerschaft werden lassen. Gegen ihren Willen tappt sie in die “medizinische Falle”. Die vielen Untersuchungen, die prophylaktische Krankenhauseinweisung in der 29. Schwangerschaftswoche, all das erlebt sie als fremdbestimmt und enorm belastend. Am 8. November 1988 werden Christian, Sören und Eric fünf Wochen vor dem Geburtstermin per Kaiserschnitt geboren. Nachdem einige gesundheitliche Hindernisse überwunden sind, kann die neue Großfamilie Weihnachten zu Hause feiern: “Wir legten die Drillinge als unser besonderes Geschenk unter den Tannenbaum.”
Im Rückblick waren die ersten Jahre für die Mutter die schwierigste Phase. Als sie selber bereits Veränderungen wahrnahm, es noch keine Diagnose gab und die Umwelt immer noch die eineiigen Drillinge mit leicht speziellem Verhalten sah. Heute ist die Behinderung deutlich. Es herrscht auch im sozialen Umfeld Klarheit. “Mit dieser offensichtlichen Behinderung ist ein Schonraum geschaffen.” Dass drei Kinder mit speziellen Anforderungen den Rahmen institutioneller Möglichkeiten sprengen, diese Erfahrung machten die Eltern bereits bei der Suche nach einem geeigneten Förderkindergarten. Dass solch eine Aufgabe aber durchaus jahrelang in einer Familie, in erster Linie von der Mutter, zu bewältigen ist, hat Familie Meier eindrucksvoll bewiesen.
Der erstgeborene Sohn Christian ist als Kleinkind der Pflegeleichteste der Drei. Doch auch ihn quälen Verdauungsprobleme, viele Mittelohrentzündungen und häufig Scharlach. Seine Unruhe wächst mit zunehmendem Alter. Sören, der Zweitgeborene, liegt tagsüber stundenlang im Bett, liebt bizarre Fingerspiele und hat das Bedürfnis, die Welt auf dem Kopf wahrzunehmen. Er isst in den ersten Jahren nur Haferflocken mit Zucker, akkurat in Rechtecke geschnittenes Knäckebrot und nachts Bananenquark. Er ist eine Nachteule, ein herumkrabbelnder, laut schreiender Nachtschwärmer, der höchstens mal zwei Stunden schläft. Das charakteristische Bild von Eric ist der kleine Junge, einen Schnulli im Mund und einen in jeder Hand. Er lebt extreme Autoaggressionen aus, schlägt sich am Kopf, durchlebt ungeahnte Ängste vor Gegenständen wie Scharnieren oder der Dunstabzugshaube. Mit fünf Jahren beginnt er zu sprechen und ist heute der einzige, der seine Bedürfnisse verbal kommunizieren kann.

Jeder der Jungen lebt mit sich, in sich und außer sich. Eine Kontaktaufnahme untereinander ist äußerst selten. Besonders markant ist das häufige, lang andauernde und zum Teil sehr laute Schreien des Trios, oft verbunden mit unruhigem Im-Kreis-Laufen. Die Zimmer des Hauses werden immer wieder umbesetzt, verändert und den jeweiligen aktuellen individuellen Bedürfnissen der Kinder angepasst. Im Winter steht in der Küche ein Planschbecken, gefüllt mit Erbsen.

Ein Arzt: "Heilung ist nicht möglich"

Mit knapp drei Jahren gibt es eine Diagnose: “Kanner Autismus bei mittlerer Intelligenz” wird der Mutter in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Köln mitgeteilt. Auf die Frage, was sie tun könne, kommt die klare Aussage des Professors: “Nichts. Eine Heilung ist nicht möglich.” Dennoch ist Frau Meier lange Jahre von der Idee einer möglichen Heilung ihrer Söhne getragen.

Neben der Therapie in der neuen therapeutischen Ambulanz Hilfe für das autistische Kind Köln/Bonn therapiert sie ihre Kinder Zuhause nach Delacato. Sein Buch ist es, das ihr einen verstehenden Zugang zu den vielen Hyper- und Hyposensibilitäten ihrer Söhne vermittelt. Delacato selber erstellt individuelle Therapiepläne für die drei Kinder. Auch das wird stundenlang in den Alltag integriert. “Es war eine überaus anstrengende Zeit und dennoch lebten wir glücklich unser Inselleben. Bei uns wurden andere Spiele gespielt. Hauptthema sinnliche, sensorische Erlebnisse, positive Bauchgefühle.”
Ihre Kinder sind keine Bilderbuchkinder. Frau Meier steht so manches Mal ratlos vor ihrer Mutterrolle und der gesellschaftlichen und auch persönlich internalisierten Herausforderung, eine gute Mutter zu sein. Sie liest viele Bücher. Danach trägt sie im Sinne von Bettelheim als sog. Kühlschrankmutter Verantwortung für den Autismus ihrer Söhne. Genetische Studien belegen eine Disposition zur Behinderung ihrer Söhne durch das X-Chromosom der Mutter. Wie einfach alles zu sein scheint: Die Mutter ist an allem schuld. Mit großer innerer Sicherheit, ohne in die Spirale medizinischer Untersuchungen zu geraten, durchlebt Frau Meier die Schwangerschaft mit ihrer Tochter Lisa, die  vier Jahre nach ihren Brüdern geboren wird. Sie ist heute ein hübscher Teenager, “reflektiert und besonders”, wie ihre Mutter anmerkt.
Kurz vor der Einschulung ist die Situation zu Hause kaum noch zu handhaben. In der mehr als 500 Kilometer entfernten Camphill Schulgemeinschaft Brachenreuthe wird zunächst Sören aufgenommen. Ein halbes Jahr später folgen Christian und Eric. Auch wenn die Drillinge ihre Ferienzeiten – ca. 16 Wochen/Jahr – zuhause verbringen, ist dieser Abschied mit unendlichem Trennungsschmerz verbunden. Seit dem Ende der Schulzeit wohnen die jungen Männer in unterschiedlichen Einrichtungen. Die Eltern fahren mal drei Stunden Richtung Norden, mal fünf Stunden Richtung Süden. Denn auch heute noch engagieren sie sich zum Wohle der Kinder.
Sagte der Professor damals bei der Diagnose-Stellung, dass Christian, Sören und Eric ihr Leben lang kleine Kinder bleiben werden, so ist es Frau Meier ganz wichtig darauf hinzuweisen, dass dies nur bedingt stimmt: “Sie haben das  Schutzbedürfnis von kleinen Kindern, aber gleichzeitig sind sie Erwachsene und verdienen es, als solche behandelt und ernst genommen zu werden!”
Kommen wir auf die Geschichte der Spezialmutter von Erma Blombeck zurück. Frau Meier ist Mutter von vier Kindern: Klar, reflektiert, informiert, lebenspraktisch, aktiv, zupackend, emotional, geduldig. Lachen und Weinen gehören zu ihrem Leben. Da braucht es keine weiteren Gesichtspunkte, um die ideale Besetzung der Mutter von Drillingen, die mit Autismus leben, zu sein. Frau Meier ist sich darüber im Klaren, dass sie Besonderes geleistet hat. Aber ob sie sich als Spezialmutter bezeichnen würde? “Vieles war nur möglich durch professionelle Hilfe und Begleitung der Familie und gelungene Zusammenarbeit von Elternhaus und Mitarbeitern der Institutionen, die unsere Kinder besuchten bzw. besuchen”, weiß Frau Meier.

Inhaltsverzeichnis Heft 4/2009

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