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(Artikel aus der Zeitschrift “Behinderte Menschen” Heft 3/2009 – erschienen im Juni 2009; Kontakt: Öffnet einen externen Link in einem neuen Fensterwww.behindertemenschen.at.)
Engelhardt, A.1 & Schnell, T.

Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Behinderung eines Menschen und den Lebensbedeutungen seiner Geschwister?

Behinderung und Lebenssinn – diese zwei Themen habe ich in meiner Diplomarbeit zu verbinden versucht. Dadurch, dass zwei meiner besten Freundinnen ein Geschwister mit Behinderung haben und ich immer wieder miterleben durfte, dass diese Geschwisterbeziehung etwas Besonderes ist und auch – wie mir erschien – die Lebensgestaltung und bestimmte Lebenseinstellungen meiner Freundinnen beeinflusst, habe ich beschlossen, die Brüder und Schwestern von Menschen mit einer Behinderung in den Mittelpunkt meiner Untersuchung zu stellen. Ausschlaggebend für die Fragestellung meiner Studie waren die zahlreichen Angaben in der Literatur, welche darauf hinweisen, dass das gemeinsame Aufwachsen mit einem Geschwister mit Behinderung positive, wie auch negative Auswirkungen auf die Persönlichkeit, Verhaltensweisen und Lebenseinstellungen der übrigen Kinder der Familie haben kann. Die Grundlage meiner Arbeit bildet die Annahme, dass diese besondere Geschwisterbeziehung und die daraus resultierenden Erfahrungen den persönlichen Lebenssinn und die als wichtig betrachteten Lebensbedeutungen beeinflussen.
Um es in einem Satz auszudrücken: Anhand einer Fragebogenstudie habe ich untersucht, ob sich die Geschwister von Menschen mit einer Behinderung in ihren Lebensbedeutungen und in ihrem Sinnerleben von der sogenannten Normalbevölkerung2 unterscheiden.
Für die verschiedenen Dinge, die Menschen in ihrem Leben als wichtig und sinnstiftend betrachten können, hat Schnell (2004) den Begriff der Lebensbedeutungen geprägt. Als Beispiele für Lebensbedeutungen können folgende Begriffe genannt werden:  Soziales Engagement, Freiheit, Gesundheit, Kreativität, Vernunft, Gemeinschaft, Spaß, Moral, Harmonie, Bewusstes Erleben. Der “Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn”, welchen ich für meine Studie verwendet habe und mittels dem man die Lebensbedeutungen des jeweiligen Befragten erheben kann, wurde von Schnell & Becker (2007) entwickelt. Anhand der Ergebnisse des Fragebogens können Informationen darüber gewonnen werden, welche der 26 angegebenen Lebensbedeutungen eine wichtige Rolle im Leben der jeweiligen Person spielen und ob diese ihr Leben als sinnerfüllt wahrnimmt oder in einer Sinnkrise steckt.

Sinnerfüllteres Leben

Doch unterscheiden sich die Brüder/Schwestern, die mit einem Geschwister mit Behinderung aufwachsen und mit diesem den Alltag teilen, nun von jenen Menschen, die diese Erfahrungen nicht machen?
Eines der prägnantesten Ergebnisse der Untersuchung ist, dass die Geschwister ein sinnerfüllteres Leben haben als die Normalbevölkerung. Wenn man das eigene Leben als sinnerfüllt wahrnimmt, stehen die Chancen gut, Wohlbefinden und seelische Gesundheit zu erlangen, wie es von Schnell & Becker (2007) beschrieben wurde.
Weiters geht aus den Resultaten deutlich hervor, dass im Leben von Schwestern und Brüdern enge Beziehungen zu Freunden und Familienmitgliedern, Gemeinschaft mit anderen und die Fürsorge für andere einen wichtigen Stellenwert einnehmen. Die gewonnenen Untersuchungsergebnisse entsprechen jenen von Hackenberg (1987), welche die Offenheit und Geselligkeit von Geschwistern von Menschen mit einer Behinderung betont, sowie deren bewusste Lebensweise. Die gesunden Geschwister scheinen viel Wert auf Freundschaften zu legen und sie lernen schon sehr früh, dass Fürsorge und Hilfsbereitschaft etwas Bedeutsames und Wichtiges im Leben sind.
Es ist lohnenswert, die Lebensbedeutung Bewusstes Erleben näher zu erläutern, da diese eine sehr wichtige Rolle im Leben der Geschwister zu spielen scheint und interessante Aspekte beinhaltet. Diese bewusste Art zu leben, ist wahrscheinlich eine Folge der notwendigen Auseinandersetzung mit der Behinderung. Dies hat zumindest Hackenberg (1992) postuliert, als sie Interviews mit Eltern von behinderten Kindern durchführte. Schnell & Becker (2007) beschreiben die Lebensbedeutung Bewusstes Erleben folgendermaßen: “Bewusstes Erleben weist auf eine Lebenseinstellung hin, die durch Aufmerksamkeit und Besinnung gekennzeichnet ist. (Subjektiv) bedeutsame Ereignisse werden ritualisiert: Der Alltag wird unterbrochen, um das Geschehen zu zelebrieren” (S.31). So erleben Geschwister von Menschen mit Behinderung ihren Alltag möglicherweise bewusster und intensiver als viele andere Menschen. Eine denkbare Erklärung dafür könnte sein, dass man sein eigenes Leben bzw. bestimmte Augenblicke im Leben mehr zu schätzen weiß, wenn man tagtäglich mit dem Schicksal eines Familienmitglieds konfrontiert ist. Gleichzeitig entwickeln sich möglicherweise aufgrund der Behinderung des Bruders bzw. der Schwester bestimmte Rituale oder Handlungsweisen, die zusammen durchgeführt werden und denen große Bedeutung zugesprochen wird. Dies sind Spekulationen, deren ausführlichere Erforschung sicherlich weitere interessante Aspekte beinhalten würde.
Eine weitere Lebensbedeutung, welche ebenfalls einen sehr zentralen Stellenwert im Leben von den Geschwistern einnimmt, ist Soziales Engagement. Das Einsetzen für soziale, politische oder ökologische Anliegen wird von ihnen demnach stärker ausgelebt, als in der Normalbevölkerung. Dieses Ergebnis weist Übereinstimmung mit vielen Hinweisen in der Literatur auf, in welchen den Brüdern und Schwestern von Menschen mit einer Behinderung eine stärkere Orientierung an sozialen und humanen Werten zugesprochen wird (vgl. Kasten, 1993; Hackenberg, 1987; 1992). Nachvollziehbar ist dies beispielsweise schon alleine dadurch, wenn man bedenkt, dass sich die Brüder und Schwestern sicherlich in zahlreichen Alltagssituationen für ihr Geschwister mit Behinderung einsetzen müssen bzw. diesem in gewissen Lebenslagen besondere Unterstützung und Hilfestellung zukommen lassen. Dieses Einsetzen für andere bzw. für etwas anderes scheint den Geschwistern auch in weiteren Situationen wichtig. Gleichzeitig stellt es eine Ressource für Sinnerleben dar, worauf auch Viktor Frankl schon hingewiesen hat, der das „Absehen von sich selbst“, die Selbsttranszendenz, als sinnstiftenden Faktor betont hat.

Entwicklung und Reifung

Freiheit und Entwicklung sind zwei weitere Sinnquellen, welche von den Brüdern/Schwestern als durchaus bedeutungsvoll in ihrem Leben betrachtet werden. Demnach ist es ihnen wichtig, dass sie sich selber persönlich weiter entwickeln und die ihnen gebotenen Möglichkeiten dazu nutzen. Es scheint so, als ob durch das gemeinsame Aufwachsen mit einem Geschwister mit Behinderung die persönliche Entwicklung tatsächlich gefördert wird. Dieses Resultat steht wiederum im Einklang mit den Ausführungen von Hackenberg (1992) welche angab, dass die notwendige Auseinandersetzung mit der Behinderung zu Entwicklung und Reifung der gesunden Geschwister führt. Gleichzeitig ist es bedeutend für sie, ihrer eigenen Freiheit genügend Platz einzuräumen. Aus diesem Resultat kann man ablesen, dass die Ungebundenheit und der persönliche Freiraum von Geschwistern von Menschen mit Behinderung mehr geschätzt wird, als von der Normalbevölkerung, weil es wahrscheinlich nicht selbstverständlich für sie ist, frei und unabhängig agieren zu können. Oft müssen sie auf die besonderen Bedürfnisse ihres Geschwisters Rücksicht nehmen bzw. fühlen sich ihm oder ihr gegenüber verpflichtet, was ihr persönliches Handeln einschränken kann. Das Ergebnis spricht dafür, dass eine zeitweilige Abgrenzung von der familiären Verantwortung notwendig ist. Diesen Punkt sollten vor allem auch die betroffenen Eltern berücksichtigen. Auch wenn sie sich wünschen, dass sich ihre anderen Kinder um das „besondere“ Geschwister kümmern, dürfen sie nicht aus den Augen verlieren, dass auch die Brüder und Schwestern ihren eigenen Freiraum brauchen und ihre Unabhängigkeit ausleben wollen.
Aus den dargestellten Ergebnissen geht hervor, dass sich die Geschwister von Menschen mit Behinderung tatsächlich in der Ausprägung einiger Lebensbedeutungen und im Sinnerleben von der Normalbevölkerung unterscheiden. Dass die Tatsache, ein Familienmitglied mit Behinderung zu haben und gemeinsam mit diesem aufzuwachsen, auch sehr positive Aspekte, wie beispielsweise die Förderung des Wachstums der eigenen Persönlichkeit und der Entwicklung oder die vermehrte Orientierung an sozialen Werten beinhalten kann, wurde hinreichend in der Literatur behandelt. Die Ergebnisse dieser Arbeit bestätigen diese Ansicht und zeigen auf, dass sich dies sogar auch in den persönlich wichtigen Lebensbedeutungen und dem Ausmaß der empfundenen Sinnerfüllung niederschlägt.
Die durchgeführte Studie kann betroffenen Eltern einige Hinweise geben. So können sie aus den Ergebnissen ablesen, was generell für die Geschwister von Menschen mit einer Behinderung bedeutsam ist im Leben und unter Umständen können sie dadurch die Entwicklung ihrer Kinder positiv beeinflussen und Hilfestellungen leisten, damit gewisse Lebensbedeutungen verwirklicht werden können. Beispielsweise könnte dies für die Skala Freiheit gut gelingen, indem die Eltern sich bewusst machen, dass für ihre gesunden Töchter/Söhne Freiräume nötig sind und ihnen diese auch zugestehen. Ebenso können die Eltern möglicherweise für das Erleben der Lebensbedeutung Gemeinschaft eine Hilfestellung leisten, indem sie beispielsweise den Kontakt zu Freunden und Unternehmungen mit diesen fördern, aber auch der Gemeinschaftssinn innerhalb der Familie kann bewusster erlebt werden, etwa durch gemeinsame Aktivitäten, intensive Gespräche oder gemeinsame Rituale.
Für Selbsthilfegruppen von Geschwistern kann die Arbeit dahingehend bedeutsam sein, dass sie eine wissenschaftliche Bestätigung dafür bekommen, dass das Aufwachsen mit einem Bruder/einer Schwester mit Behinderung durchaus nicht nur als Belastung erfahren wird und nur negative Auswirkungen auf das eigene Leben hat, wie es in früherer Literatur oft beschrieben wurde; sondern dass dies auch für sie selbst ein Gewinn und eine Bereicherung für ihr Leben darstellen kann. Möglicherweise gelingt es einigen Brüdern/Schwestern sogar aus den Ergebnissen neue Ansichten für die eigene Lebensgestaltung zu gewinnen. So ist es der Autorin ein Anliegen, dass sich die Geschwister über ihre eigenen Ressourcen, wie Aufmerksamkeit, Bewusstheit und Einfühlungsvermögen bewusst werden, die bei ihnen stärker ausgeprägt sind als bei der Normalbevölkerung. Daher können sie durch die jahrelange Übung dieser Fähigkeiten als Experten/Innen darin angesehen werden.

Literatur

  • Hackenberg, W. (1992). Geschwister -behinderter Kinder im Jugendalter – Probleme und Verarbeitungsformen; Längsschnittstudie zur psychosozialen Situation und zum Entwicklungsverlauf bei Geschwistern behinderter Kinder. Berlin: Edition Marhold im Wiss.- Verl. Spiess.
  • Hackenberg, W. (1987). Die psycho-soziale Situation von Geschwistern behinderter Kinder. 2. Auflage. Heidelberg: Edition Schindele.
  • Kasten, H. (1993). Die Geschwisterbeziehung; Band II. Göttingen: Verlag für Psychologie, Hogrefe.
  • Schnell, T. & Becker, P. (2007). Der Fragebogen zu Lebensbedeutungen und -Lebenssinn (LeBe) Manual. Göttingen: -Hogrefe-Verlag.
  • Schnell, T. (2004). Implizite Religiosität – Zur Psychologie des Lebenssinns. Lengerich: Pabst Science Publishers.
  • Engelhardt, A. (2008). Behinderung und Lebenssinn. Gibt es einen Zusammenhang zwischen der Behinderung eines Menschen und den Lebensbedeutungen seiner gesunden Geschwister? Eine quantitative Studie. Diplomarbeit. Universität Innsbruck, Institut für Psychologie.

    1Engelhardt Anna, csae1590@uibk.ac.at, Uni Innsbruck, Institut f. Psychologie
   2Als Normalbevölkerung werden jene 603 deutschen Bundesbürgerinnen und -bürger bezeichnet, die den “Fragebogen zu Lebensbedeutungen und Lebenssinn” (Schnell & Becker, 2007) ausgefüllt haben und auf deren Angaben die teststatistischen Kennwerte beruhen. Zu deren Werten werden jene der Geschwister in Beziehung gesetzt.

Inhaltsverzeichnis Heft 3/2009

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