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"Der behinderte Mensch in der (Pfarr)-Gemeinde"

Mag. Andrea Sauermoser im Gespräch mit Marianne Hengl:
Frau Hengl, Sie sind nun seit über 20 Jahren im Bereich Behindertenarbeit aktiv tätig und auch medial präsent. Welche Position zum Thema Behinderung beobachten Sie bei Vertretern der katholischen Kirche?

Die katholische Kirche ist sich ihrer Verantwortung dem Thema Behinderung gegenüber bewusst. Beispielsweise als Einrichtung der Kirche die Caritas, die in unterschiedlichen Bereichen sehr kompetent und Ziel führend arbeitet. Parallel dazu sehe ich aber bei den Pfarrgemeinden noch einiges an Nachholbedarf.
Welche Aktivitäten bieten Pfarrgemeinden, um Menschen mit Behinderung bzw. deren Familien zu unterstützen?
Nach eigener Erfahrung, gründlichen Recherchen und Auskünften bei Gemeinden war ich positiv gestimmt, weil die Barrierefreiheit – im baulichen Sinne, zum Teil stattgefunden hat. Es gibt ein Bewusstsein, dass es für Menschen mit Behinderung notwendig ist, die Gehsteigkanten abzuflachen und, falls Stufen vorhanden sind, Rampen zu bauen.
Der andere wichtige Aspekt, nämlich inwieweit kümmern sich Christen der Gemeinde um ihre Nächsten, gestaltet sich problematisch.
Menschen mit Behinderung wollen als gleichwertige Mitglieder der Gemeinde behandelt werden und einen angemessenen Stellenwert in der Gemeinschaft genießen. Sie wünschen sich, nicht vorwiegend als “behindert” gesehen zu werden, sondern als Persönlichkeiten mit ganz speziellen Kompetenzen und Fähigkeiten.
Meist werden Menschen mit Behinderung mit dem angebotenen Programm ausgegrenzt, sie sollen unter sich sein können. Es wäre von größter Bedeutung, dass sie in der Öffentlichkeit als ein Teil der vielfältigen Gemeinschaft mitleben und gerne gesehen sind. Beispielsweise könnten sie vermehrt in die Ministranten- oder Jungschargruppen integriert werden, wo es inzwischen schon positive Beispiele gibt. Das “Sichtbar-Sein” in der Gemeinde trägt einen großen Teil zum Aufbau des Selbstwertgefühls bei sowie dazu, dass sie sich als wertvollen Teil der Gesellschaft fühlen.
Sie hatten kürzlich ein Hearing mit dem Titel „Familie spricht“ für die Angehörigen von Menschen mit Behinderung. Welche Reaktionen hat es bei diesem Termin gegeben?
Die Familien fühlen sich mit ihren Sorgen und Nöten alleine gelassen und lehnen die Rolle des Bittstellers ab, der verständnisvoll nicken muss, um seine Ziele zu erreichen. Egal ob es um finanzielle Belange geht oder um beispielsweise ein Ansuchen für die Aufnahme in die Dorfschule. Nachdem das Leben ohnedies nicht einfach ist, müssen diese Familien noch um Hilfsmittel, Beteiligung am öffentlichen Leben usw. bitten. Die Folge ist oft Resignation, Verzweiflung und Einsamkeit. Viele verstecken sich zu Hause und finden nicht den Mut den Schritt in die Gemeinschaft zu wagen.
Wird von Abtreibung gesprochen, sind deren Gegner gleich zur Stelle, den Finger zu heben und von Sünde zu sprechen. Reden alleine ist nicht genug. Familien, die vor dieser Entscheidung stehen, brauchen dringend Sicherheit, Zuspruch und Unterstützung.
Zur christlichen Nächstenliebe gehört die Selbstverständlichkeit allen Menschen – allen Kindern Gottes – mit Aufmerksamkeit zu begegnen. Um diesen Mitmenschen ein erfüllendes Leben zu ermöglichen, braucht es ein Umdenken und vor allem das Erschaffen von neuen Strukturen.
Ich selbst bin auch Christin und bin selbst als schwer behinderte Frau oft traurig, denn ich vermisse diese Grundhaltung. Die Kirche sollte ein starkes Vorbild sein und die Hauptrolle übernehmen, die Gesellschaft in diese Richtung hin zu verändern. Es bedarf helfender Hände, Menschen mit Behinderung zu integrieren und sich ihrer anzunehmen. Dabei sehe ich die Verantwortung bei allen Christen, im Besonderen auch bei den Mitgliedern des Gemeinde- und Pfarrgemeinderates.
Werden weitere Aktionen dieser Art folgen?
Welche Projekte haben Sie sonst noch geplant?

Derzeit ist es wichtig, die Umfragen zu filtern und positive Pilotprojekte aus Gemeinden der Öffentlichkeit vorzustellen. Anschließend sind Besuche in Gemeinden am Plan, um die Bewohner zu sensibilisieren und die vorhandenen Berührungsängste abzubauen. Vor Ort werden betroffene Familien die Tatsachen konkret ansprechen.
Weiters soll die Bereitschaft der Jungschar abgeklärt werden, verschiedene Bereiche für die bessere Integration von Menschen mit Behinderung in die Gemeinschaft zu übernehmen. Der nächste Schritt ist die Zusammenarbeit mit der ARGE Behindertenseelsorge: bestehende Projekte sollen effizienter publiziert und in zukünftige Projekte mit eingebunden werden.
Wie ist es für Sie als Betroffene in Ihrer Gemeinde gewesen?
Ich bin jeden Sonntag mit meinen Eltern und Geschwistern in die Kirche gegangen. Immer musste ich mich selbst um meine Wünsche und Anliegen kümmern: “Darf ich vielleicht auch einmal eine Fürbitte lesen oder im Kinderchor mitsingen …?” Manchmal hat mich mein Stolz davon abgehalten, schon wieder zu fragen. Das Resultat waren traurige und einsame Stunden. “Warum fragt ihr mich eigentlich nie, was ich gerne hätte?”
Meine Familie war meist “einzelkämpferisch” unterwegs, weil sich niemand verantwortlich gefühlt hat und meine Familie nicht bitten wollte. So gut wie keiner kam auf die Idee, uns “in die Mitte der Gemeinschaft” zu nehmen oder uns Hilfe anzubieten.
Viele Beispiele, die ich im Rahmen meiner Arbeit für den Verein RollOn erfahre, erinnern mich an meine eigenen Kindertage.
Zu den Sorgen und Aufgaben der Familien kommen die Bemühungen, das eigene Kind akzeptiert zu wissen hinzu. Aber wie groß ist der Stolz und die Freude der Eltern, wenn ihre Kinder als Gemeindemitglieder angenommen werden und ihnen Aufmerksamkeit zukommt. Jedes Entgegenkommen würde Menschen mit Behinderung und deren Angehörigen die Last des Weges in die Integration erleichtern. Als gläubige Christin sehe ich diese Aufgabe als Verantwortung der christlichen Gemeinschaft.
“Liebe deinen Nächsten, wie dich selbst” lautet Zitat aus der heiligen Schrift. Der Nächste könnte ein Mensch mit einer Behinderung sein.

Zur Person:

Marianne Hengl

Geb. am 22. 1. 1964 in Weißbach (Salzburg) als ältestes von fünf Kindern; verheiratet, lebt in Axams. Obfrau von RollOn Tirol und Salzburg, Delegierte im Österreichischen Wirtschaftsparlament.
Zuständig für Öffentlichkeitsarbeit und Fundraising im Seraphischen Liebeswerk (Tirol).
Autobiographie “Wirbelwind – Im Rollstuhl die Welt bewegen” (zweiter Teil in Arbeit).
(von Marianne Hengl)