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Am 26. Mai wählen wir ein neues Europaparlament. Ninia LaGrande analysiert die Parteiprogramme im Hinblick auf die Themen Inklusion und Menschen mit Behinderung.

Mein blauer Europapulli liegt schon frisch gewaschen im Schrank. Das wird mein Outfit, wenn ich am 26. Mai in die Grundschule gegenüber spaziere, um mein Kreuzchen bei der Europawahl zu machen. Denn an diesem Tag wird ein neues EU-Parlament gewählt. Worüber ich mich dieses Mal besonders freue: Rund 80.000 Menschen mit Behinderung in Deutschland dürfen dank der Abschaffung des Wahlrechtsausschlusses das erste Mal wählen. Das ist ein Meilenstein für die gleichberechtigte Teilhabe und Mitbestimmung von Menschen mit Behinderung.
Wählen – was bringt das schon? Ziemlich viel! Auch, wenn einem die Institution Europäische Union immer sehr weit weg und bürokratisch vorkommt – auf europäischer Ebene werden viele Gesetze entschieden, die dann in den einzelnen Ländern zur Umsetzung kommen. Wer wählt, fordert sein*ihr eigenes Recht ein, erhält die Demokratie und bestimmt die zukünftige Entwicklung der gesamten EU mit. Ohne die Entscheidungen der EU und das Geld, das die EU für die Förderung von Inklusion und Barrierefreiheit bereitstellt, wären wir sicher noch nicht so weit, wie wir heute sind. Vom Erhalt der Reisefreiheit, einer gemeinsamen Währung und der Ausweitung der EU Disability Card auf alle Mitgliedsstaaten mal ganz abgesehen.
Die „Disability Intergroup“ ist eine informelle Gruppe von Abgeordneten des Europäischen Parlaments, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderungen in allen Mitgliedsstaaten stark macht. Ádám Kósa (EPP) ist der President der Disability Intergroup und der erste gehörlose Abgeordnete. Er sagt: „Disability policy is not a question of being rightist or leftist”. Übersetzt: “Behindertenrechtspolitik ist keine Frage von politisch links oder recht sein.“ Aber: Was sagen denn die einzelnen Parteien in Deutschland zum Thema Inklusion in Europa? Welche Schwerpunkte setzen sie diesbezüglich in ihren Wahlprogrammen und welche Forderungen haben sie für die nächste Legislaturperiode? Um das herauszufinden, habe ich mir die einzelnen Wahlprogramme genau durchgelesen und verglichen.

Zu allgemein, zu oberflächlich, zu wenig Tiefgang

Fangen wir mal bei der CDU/CSU an. Die Schwesterparteien haben in diesem Jahr erstmals ein gemeinsames Wahlprogramm zur Europawahl veröffentlicht. In diesem wünschen sie sich unter anderem mehr Bereitschaft von Arbeitgeber*innen bei der Einstellung von Menschen mit Behinderung. Hintergrund: Für Firmen mit mehr als 20 Mitarbeiter*innen gibt es eine Pflichtquote von 5 Prozent. Das bedeutet, mindestens 5 Prozent der Arbeitsplätze müssen mit Menschen mit Schwerbehinderung besetzt sein. Wer das nicht leistet, muss eine sogenannte Ausgleichsabgabe zahlen. Diese richtet sich nach der Beschäftigungsqoute und beträgt höchstens 320 Euro je unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Immer noch kaufen sich zu viele Unternehmen lieber frei als die Quote zu erfüllen. Mehr Bereitschaft klingt da vielleicht ganz nett – ist aber nicht genug. Hier auf plötzlichen Sinneswandel anstatt auf konkrete gesetzliche Änderungen zu zählen, wird keine großen Änderungen bewirken. Das Stichwort „Inklusion“ taucht im gesamten Wahlprogramm der CDU/CSU nicht auf. Es ist von „gleichberechtigter Teilhabe“ die Rede – allerdings nicht im Bereich Bildung.
Die SPD wird in ihrem Wahlprogramm zumindest ein bisschen konkreter. Sie wollen mit einem europäischen Masterplan die Teilhabe von Menschen mit Behinderung am Arbeitsmarkt und in der Gesellschaft verbessern. Was dieser Masterplan im Detail beinhaltet, erfahre ich nicht – aber: „Wir wollen ein einheitliches Europäisches Behindertenrecht im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention.“ Das klingt gut. Ist aber aus meiner Sicht eine Selbstverständlichkeit – vor allem, da die UN-Behindertenrechtskonvention in diesem Jahr ihr zehnjähriges Jubiläum feierte. Ein weiterer Punkt: Die SPD wünscht sich mehr Zugang zu Erasmus-Programmen für Jugendliche mit Behinderung.
Insgesamt bleiben mir CDU/CSU und SPD in Sachen Inklusion in ihren Wahlprogrammen zu unkonkret und oberflächlich. Gleichberechtigte Teilhabe für Menschen mit Behinderung ist keine neue Forderung – klare Zielvorgaben und Forderungen hätten mir da besser gefallen.

Barrierefreiheit auch im privaten Sektor

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gehen da schon einen Schritt weiter, widmen dem Thema ein ganzes Kurzkapitel und weiten die Forderungen auf weit mehr Lebensbereiche aus. Sie fordern: „Das Recht auf eine selbstbestimmte und eigenständige Lebensführung muss sichergestellt werden.“ Das ist schon mehr als die bloße Teilhabe an der Gesellschaft. Außerdem wollen sie die Umsetzung des European Accessibility Act unterstützen. Mit diesem so genannten Richtlinienentwurf sollen Unternehmen des öffentlichen Interesses zur digitalen Barrierefreiheit verpflichtet werden. Webdesign und die Funktionsweise eines digitalen Dienstes sollen zukünftig für alle Menschen nutzbar sein. Dafür setzt sich auch der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderung – Jürgen Dusel – ein: „Barrierefreiheit [darf sich] nicht nur auf den öffentlichen Sektor beziehen. Menschen mit Behinderungen wollen genauso ins Kino gehen können oder in die Arztpraxis kommen wie alle anderen auch. Sie haben ein selbstverständliches Recht darauf. Barrieren müssen auch im privaten Sektor abgebaut werden.“ Außerdem fordert die Partei eine fünfte Antidiskriminierungsrichtlinie. Die vier bereits bestehenden Gleichbehandlungsrichtlinien der Europäischen Union befassen sich mit Antirassismus, Beschäftigung, Gender und Gleichstellung der Geschlechter. Mit einer fünften Richtlinie wollen auch sie die UN-BRK auf europäischer Ebene umsetzen.
Auch die Partei DIE LINKE ist in ihrem Programm konkret, was Inklusion angeht. Sie formulieren als einzige: „Inklusion ist Menschenrecht.“ Daraus ergeben sich für die Partei folgende Forderungen: Menschen mit Behinderung sollen im „politischen, sozialen und kulturellen Leben“ nicht nur dabei sein, sondern es auch selbstbestimmt und aktiv gestalten. Aus meiner Sicht der wichtigste Punkt: Inklusion ist eben nicht nur Teilhabe, sondern gleichberechtigte Mitbestimmung. Die Tonalität der Wahlprogramme bringt zum Ausdruck, ob eine Partei das verstanden hat oder nicht. DIE LINKE will Doppelstrukturen in allen Bereichen auflösen und inklusive Bildung in allen Mitgliedsstaaten umsetzen. Das gefällt mir – gleichzeitig frage ich mich aber auch, wie und in welcher Zeitspanne das umgesetzt werden soll. Deutlich wird: DIE LINKE denkt Behinderung im Gegensatz zu anderen Parteien in zahlreichen Bereichen mit. Das Stichwort kommt nicht nur in einem eigenen Absatz vor. Ich lese Forderungen nach barrierefreien Arztpraxen, gleichberechtigte Arbeitsmöglichkeiten und Schutz vor Gewalt.

Darf ich bitte Ihren Teilhabeausweis sehen?

Die FDP erwähnt in ihrem Wahlprogramm zur Europawahl das Stichwort Inklusion nicht ein einziges Mal. Dafür fordern sie einen europaweiten Teilhabeausweis. Was man mit diesem Ausweis machen kann – Achterbahnfahren, Reisen, das EU-Parlament angucken – erwähnt die FDP nicht. Aber wenn ich den zukünftig brauche, um in Europa mitmachen zu dürfen, hätte ich den gerne. Außerdem wünscht sich die FPD, dass Formulare und Bescheide zukünftig für Menschen mit „Handicap“ (ein Begriff, der außer Acht lässt, dass Menschen von ihrer Umwelt behindert werden) besser zugänglich sein sollen. Wie die SPD wollen sie mehr Erasmus für Menschen mit Behinderung möglich machen und fordern darüber hinaus ein Förderprogramm für inklusive Begegnungen. Vielleicht lehne ich mich jetzt ein bisschen weit aus dem Fenster, aber kleiner Tipp: Inklusive Bildung von Anfang an fördert inklusive Begegnungen – da muss man nicht extra Förderprogramme aus dem Boden stampfen. Die FDP scheint zwar verstanden zu haben, dass Menschen mit Behinderung mehr vom Kuchen abhaben wollen, aber inhaltlich haben sie sich offensichtlich noch nicht viel mit dem Thema Inklusion auseinandergesetzt.

Inklusion? Noch nie davon gehört!

Die AfD wiederum bietet als einzige der großen Parteien kein Wahlprogramm in Leichter Sprache an. Passend dazu wünschen sie sich „keine Inklusion um jeden Preis“, sondern „mit Augenmaß“. Wer dieses Maß bestimmt, wird nicht klar. Die Teilhabe am Bildungssystem sehen sie als bereits erfüllt an und fordern daher keine weiteren Änderungen. Nicht über uns, mit uns – dieser Leitspruch der Behindertenrechtsbewegung wird im Wahlprogramm der AfD mit Füßen getreten.
Und dann gibt es die Parteien, in deren Wahlprogrammen Menschen mit Behinderung überhaupt keine Rolle spielen. Auf der Website von der satirischen Partei DIE PARTEI mache ich den Wahlprogrammgenerator, der keine Frage nach Inklusion stellt, dafür aber in den Antwortmöglichkeiten mit dem Wort „schwachsinnig“ aufwartet. Die Piratenpartei fordert keine Diskriminierung beim allgemeinen Zugang zum Gesundheitssystem, erwähnt Menschen mit Behinderung aber im gesamten – gemeinsam mit allen Piraten Europas geschriebenen – Wahlprogramm nicht. Die FREIEN WÄHLER wiederholen das Wort Heimat in ihrem Programm so oft, dass man sich beim Lesen selbst nicht mehr so sicher ist, wo man eigentlich zuhause ist, eine Heimat für Menschen mit Behinderung scheinen sie aber nicht vorgesehen zu haben. Und auch die neue gegründete paneuropäische Partei VOLT hat zum Thema Inklusion keine Statements oder Argumente im Wahlprogramm veröffentlicht.
Fazit: 80 Millionen Menschen mit Behinderung leben in der EU. Die UN-Behindertenrechtskonvention jährt sich in diesem Jahr zum zehnten Mal. Tatsächlich sind die Rechte auf Inklusion und gleichberechtigte Teilhabe noch nicht annähernd in allen EU-Mitgliedsstaaten durchgesetzt. Für viele Parteien scheint Inklusion weiterhin ein Randthema zu bleiben, das man nur oberflächlich behandeln muss. Daher ist es umso wichtiger, am 26. Mai wählen zu gehen und die eigene Stimme zu nutzen. Denn die EU gibt viele Richtlinien in Sachen Barrierefreiheit vor. Beispiele: Alle neuen Zugstationen müssen barrierefrei sein und Flughäfen sind nun verpflichtet, Assistenz bereit zu stellen. Im Jahr 2000 hat die EU eine Richtlinie verabschiedet, die Diskriminierung in der Arbeitswelt verbietet – erst dadurch können Menschen mit Behinderung mit juristischer Grundlage auf ihre Rechte bestehen. Rund 800.000 Europäer*innen dürfen aufgrund diskriminierender Gesetze nicht wählen. Wählen ist ein Privileg – nutzen wir es!

Infolink:

Wie funktioniert die EU-Wahl?Quelle: leidmedien.de