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Bildungsminister Faßmann bekennt sich im Rechnungshofausschuss zu bedarfsgerechten Fördermodellen

Der Aufbau eines inklusiven Bildungssystems in Österreich stockt, findet der Rechnungshof (RH). Die Umsetzung des gemeinsamen Unterrichts von SchülerInnen mit und ohne Behinderung in Modellregionen sei zwar erfolgreich, eine bundesweite Gesamtstrategie für den Bildungsbereich gemäß UN-Behindertenrechtskonvention fehle aber gänzlich, heißt es im RH-Prüfbericht (III-242 d.B .). Neben Kompetenz- und Finanzierungsfragen stelle auch die gesellschaftliche Einstellung im Umgang mit Menschen mit Behinderung eine Herausforderung dar.
Im Rechnungshofausschuss des Nationalrats diskutierten die Abgeordneten heute mit Rechnungshofpräsidentin Margit Kraker und Bildungsminister Heinz Faßmann, wo für inklusiven Unterricht in Österreich die Umsetzungsprobleme liegen. Für die Bildungsdirektionen Kärntens und Tirols stellten Dagmar Zöhrer und Werner Mayr die Sicht der für den Pflichtschulbereich zuständigen Bundesländer vor. Im überprüften Zeitraum von 2012 bis 2016 ist laut Bericht die Zahl der SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf (SPF) in Österreich um zwei Prozent auf 30.690 gestiegen, wobei Kärnten mit einem Plus von 4,3% über dem Bundesdurchschnitt und Tirol mit 0,2% Anstieg darunter lag. Der RH-Bericht wurde einstimmig zur Kenntnis genommen.
Fraktionsübergreifend kritisiert wurde bei der Debatte die 2,7%-Quote für sonderpädagogisch geschultes Pflichtschullehrpersonal, die laut Ausschussobfrau Irmgard Griss bei den Finanzausgleichsverhandlungen 2000 mit den Bundesländern festgelegt wurde. Der Wert entspreche nicht dem vorhandenen Bedarf, stimmten etwa Gerald Hauser (FPÖ) und Philip Kucher (SPÖ) überein, wobei Hauser darin ein Versäumnis der letzten Regierung sieht.

Faßmann: Balance zwischen inklusivem Unterricht und Sonderschulen

Bildungsminister Faßmann bestätigte, die 2,7%-Quote sei vor seiner Amtszeit beschlossen worden, ohne “empirische Grundlage”. Er wies allerdings darauf hin, dass das Bildungsministerium nicht an den Finanzausgleichsverhandlungen beteiligt ist. In den Bildungsdirektionen gebe es nun aber eigene Fachbereiche für Inklusion, Diversität und Sonderpädagogik, in denen der tatsächlich Bedarf erhoben werde. Grundsätzlich hielt er fest, er wolle eine “Balance” zwischen der Ausweitung des inklusiven Unterrichts und dem Bekenntnis der Regierung zu Sonderschulen finden. Beide Systeme hätten ihre Berechtigung. “Es geht nicht um die Abschaffung des inklusiven Unterrichts”, aber das Kindeswohl habe immer im Mittelpunkt zu stehen. Ein Beratungsgremium aus ExpertInnen und Betroffenen erarbeite bis Jahresende Lösungen für eine schrittweise Verbesserung der Situation, etwa zur Präzisierung des Inklusionsbegriffs und der Kriterien zur Definition sonderpädagogischen Förderbedarfs bei SchülerInnen. Österreich völkerrechtlich zur Inklusion verpflichtet Gegenstand der Rechnungshofprüfungen im Bildungsministerium sowie in Kärnten und Tirol waren die Maßnahmen zur Einrichtung eines inklusiven Bildungssystems. Vorgesehen ist ein solches nicht nur in der 2008 von Österreich ratifizierten Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, sondern auch im Nationalen Aktionsplans Behinderung 2012 bis 2020. Im Arbeitsprogramm der letzten SPÖ-ÖVP-Regierung war die Förderung eines inklusiven Bildungssystems ebenfalls enthalten. Die aktuelle Regierung wolle zwar den Nationalen Aktionsplan weiterführen, aber gleichzeitig die Sonderschulen erhalten und stärken, verweist der Rechnungshof auf das Regierungsprogramm der ÖVP-FPÖ-Koalition. Ratsam wäre, so Kraker, über alle zuständigen Stellen hinweg ein Resümee über die bestehenden inklusiven Maßnahmen zu ziehen, um die Kriterien für Inklusion von SchülerInnen mit besonderem Förderbedarf zu präzisieren. Neben der gesellschaftlichen Dimension bereiten der Präsidentin zufolge kompetenzrechtliche Hürden im heimischen Schulwesen Probleme, ein Bildungssystem mit geeigneten Rahmenbedingungen zur Inklusion zu schaffen.
Ausreichend Unterstützungspersonal für SchülerInnen mit besonderen Bedürfnissen sei eben auch im Regelschulwesen sicherzustellen, plädierten SPÖ-Abgeordneter Kucher und JETZT-Mandatarin Alma Zadić für ein parteiübergreifendes Eintreten, um das System des inklusiven Unterrichts weiterzuführen. Die Finanzierung des Supportpersonals sei auf eine klare rechtliche Grundlage zu stellen. Den Gemeinden, die als Schulerhalter für das Personal verantwortlich zeichnen, müsse jedenfalls in diesem Bereich finanziell unter die Arme gegriffen werden, mahnte FPÖ-Abgeordneter Hauser. “Wir stehen zur Inklusion, wo sie möglich ist”, unterstrich er. Für schwerstbehinderte Kinder sei jedoch die Sonderschule aufgrund der personellen und infrastrukturellen Gegebenheiten jedenfalls die bessere Schulform. Viele Eltern sähen das ähnlich, sie hätten Anspruch auf Wahlfreiheit.
Ein Mittelweg sei zu finden, “was machbar ist”, schlug Hermann Gahr (ÖVP) in die gleiche Kerbe. Dabei plädierte er nicht nur für ausreichend SPF-Ressourcen an den Schulen, sondern auch in den pädagogischen Beratungszentren.

Inklusive Bildungsstrategie fehlt

Konkret bemängelt wird in der Rechnungshofanalyse, dass lediglich Pflichtschulen im Projekt “Inklusive Modellregionen” vertreten sind, nicht aber berufsbildende Schulen und allgemein bildende höhere Schulen. “Eine inklusive – alle Bildungsebenen umfassende – Strategie fehlte”, liest man im Rechnungshofbericht. Gestartet wurden die Modellregionen als Ersatz für Sonderschulen mit Verspätung 2015 in der Steiermark, in Kärnten und in Tirol, wobei bis 2020 eine Ausweitung auf ganz Österreich vorgesehen war.. Nach Meinung des Rechnungshofs kann dieser Zeitplan kaum gehalten werden, zumal die aktuelle Regierung aus ÖVP und FPÖ eine Stärkung der Sonderschulen vorsehe. Die Implementierungsschritte inklusiver Bildungsvorhaben in den Modellregionen erkenne man ungeachtet dessen als erfolgreiche Entwicklung an, betonte RH-Präsidentin Kraker.

Erfahrungswerte aus Kärnten und Tirol

Am Beispiel Kärnten schilderte Inklusionsexpertin Dagmar Zöhrer das Vorgehen des Bundeslands beim Aufbau eines durchgehenden inklusiven Unterrichts, der “kein Zwangsprogramm” sei. An den in Kärnten noch bestehenden Sonderschulen nehme die Nachfrage stetig ab. Das Erfolgsmodell ihres Bundeslands beruht laut Zöhrer auf dem Eingehen auf die Bedürfnisse jeder Schülerin und jedes Schülers mit speziellem Förderbedarf. Umfassende bedarfsgerechte Betreuung, auch am Nachmittag und die therapeutische Versorgung gehörten dazu. “Für betroffene Kinder gibt es keinen Nachteil im Vergleich zu den Sonderschulen”, auch von Elternseite kämen keine negativen Rückmeldungen. Im Gegenteil ergäben sich durch das gemeinsame Lernen Vorteile für alle. Insbesondere nannte die Expertin den Abbau von Vorurteilen gegenüber Menschen mit Behinderung und das Erlernen von Toleranz, die “nicht vorausgesetzt” werden könne. Kinder mit Behinderung wiederum zeigten dank der Partizipation in der Regelschule beträchtliche Entwicklungsfortschritte, erklärte sie Doris Margreiter (SPÖ). Entscheidend seien allerdings die Möglichkeit der SPF-SchülerInnen in Regelklassen, phasenweise in kleineren Gruppen zu lernen.
Aus Sicht Zadićs macht der gemeinsame Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung auch volkswirtschaftlich Sinn, was Zöhrer mit dem Hinweis bekräftigte, dass Sonderschulkinder Studien zufolge viermal so häufig im späteren Leben scheitern, als SPF-SchülerInnen mit regulärem Abschluss. Daraus resultierende Kosten habe der Staat in anderen Bereichen zu tragen.
“Den SPF-Stempel wirst du ein Leben lang nicht los”, meinte dazu der Leiter des pädagogischen Dienstes in der Bildungsdirektion Tirol Werner Mayr. Sein Bundesland versuche daher, sämtliche Fördermöglichkeiten im Regelbetrieb zu nutzen, ehe sonderpädagogische Maßnahmen zum Tragen kommen. Dementsprechend gingen hier ebenfalls die Sonderschulklassen zurück. In diesem Zusammenhang beschrieb Mayr auch die Gutachtertätigkeit zur Feststellung eines SPF und machte sich für österreichweit standardisierte Gutachten nach einheitlichen Kriterien stark.

Einheitliche Rahmenbedingungen für Sonderpädagogischen Förderunterricht

Eine standardisierte Vorgehensweise empfehlen auch die RechnungshofprüferInnen, ausgehend von einem ressortübergreifenden Konzept für ein inklusives Bildungssystem “auf allen Ebenen”, also vom Kindergarten bis zur Erwachsenenbildung. Schülerinnen und Schüler mit Behinderung beziehungsweise sonderpädagogischem Förderbedarf sollten an allen Standorten weitgehend die gleichen Rahmenbedingungen vorfinden. Weiters wären die Anträge auf sonderpädagogischen Förderunterricht einheitlich zu regeln, die Beistellung und Finanzierung von Pflege- und Hilfspersonal wie GebärdendolmetscherInnen rechtlich zu klären und der tatsächliche Ressourcenverbrauch im inklusiven Unterricht zu evaluieren. Auf dieser Grundlage sei die Ressourcenzuteilung im einheitlichen Ausmaß festzulegen.

SPF hat Auswirkung auf Bildungsweg

Gegebenenfalls wäre auch die anonymisierte Weiterverarbeitung der Daten von SchülerInnen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gesetzlich zu ermöglichen, weist der Rechnungshof auf den bildungspolitischen Informationsnutzen zusätzlicher Analysen in diesem Bereich hin. Immerhin habe der SPF-Status nachteilige Auswirkung auf die weitere Bildungs- und Berufskarriere. In diesem Zusammenhang erwartet der Rechnungshof, dass auch bei SchülerInnen mit Migrationshintergrund tatsächlich nur jene sonderpädagogische Förderung erhalten, die sie auch benötigen. Im Schuljahr 2015/16 waren SchülerInnen mit nicht-deutscher Erstsprache im SPF-Bereich mit 35% österreichweit überrepräsentiert, nachdem unter sämtlichen PflichtschülerInnen lediglich 29% eine andere Muttersprache hatten.
Bei der Geschlechterverteilung zeigt sich laut Rechnungshof, dass Buben durchschnittlich öfter SPF-Unterricht benötigen als Mädchen. So lag der Anteil von Schülerinnen mit SPF 2015/16 bei 37%, von sämtlichen PflichtschülerInnen waren in diesem Schuljahr aber 47% bzw. 48% weiblich.

(Quelle: APA / OTS)